DIE WEHRDEBATTE WIRD VON GEFÜHLEN BESTIMMT – NICHT VON DER SACHE
: Triumph der Zwangsneurose

Politik hat viel mit Psychologie zu tun. Wie viel, das zeigt sich derzeit an rüstungspolitischen Fragen. Noch steht nicht einmal fest, ob das von den USA ersehnte Raketenabwehrsystem NMD überhaupt funktioniert – derzeit spricht mehr dagegen als dafür. Nichts hat sich außerdem daran geändert, dass eine Verwirklichung des Vorhabens gegen den ABM-Vertrag verstieße, dass sie eine neue Spirale der Aufrüstung in Gang zu setzen droht und dass es darüber hinaus sehr zweifelhaft ist, ob ein Raketenschutzschirm auch nur theoretisch das geeignete Mittel gegen Angriffe so genannter Problemstaaten sein kann. Vor allem für Europa.

Wenn Verteidigungsminister Rudolf Scharping jetzt in den USA dennoch um den Eindruck bemüht war, den Plänen der neuen US-Regierung nicht grundsätzlich ablehnend gegenüberzustehen, dann hat das eben mehr psychologische als sachliche Gründe. Der Einzug eines Republikaners ins Weiße Haus, der NMD sehr viel hartnäckiger verfolgt als sein demokratischer Vorgänger, macht die Frage der Haltung zum US-Raketenabwehrsystem zu einem Symbol, an dem sich der Grad der Loyalität zum mächtigeren Bündnispartner erweist.

Symbole bilden den emotionalen Kitt des trockenen politischen Alltagsgeschäfts, und über Gefühle lässt sich schwer diskutieren. Das ist der wahre Grund dafür, dass die Bundesregierung die USA am Ende unterstützen und das auch noch als den realpolitisch einzig möglichen Kurs bezeichnen wird. Ein Triumph der Zwangsneurose.

Auch innenpolitisch wird die sicherheitspolitische Debatte gegenwärtig mehr von psychologischen Faktoren als von Sachargumenten bestimmt. Die rot-grüne Regierung ist sich mit der Union und der FDP darin einig, dass die Bundeswehr in Geldnöten steckt. Weil diese Übereinstimmung besteht, wird diese Behauptung als solche auch von der veröffentlichen Meinung kaum je in Frage gestellt. Gestritten wird lediglich über die Höhe des Defizits – nicht aber darüber, wofür die Mittel denn nun im Einzelnen gebraucht werden.

Jedenfalls nicht für die Erfüllung des Nato-Vertrages. Der enthält lediglich Verpflichtungen, die sich auf die Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses beziehen. Die Notwendigkeit der – teuren – Reform der Bundeswehr wird stets vor allem mit den erweiterten Aufgaben begründet, die sich aus der neuen Doktrin der Allianz ergeben. Diese neue Doktrin ist niemals vom Bundestag diskutiert, geschweige denn abgesegnet worden. Wem fällt das noch auf? Und wer hielte nicht allein schon den Hinweis darauf für politisch mindestens naiv? Der Bauch ist im Zusammenhang mit Rüstungspolitik längst wieder mindestens ebenso wichtig geworden wie der Kopf. BETTINA GAUS