Idealismus auf dem Abstellgleis

Dem Theater N.N. im Altonaer Kulturbahnhof ist von der Bahn zum 31. März gekündigt worden. Wo jetzt noch Tabori gespielt wird, sollen bald Paletten gelagert werden  ■ Von Petra Schellen

Alle reden von der Mir. Lamentieren über die Frage, wann und wo sie niedergeht und wen sie wohl am Kopfe trifft. Fürwahr: Das sind Dinge, die die Welt bewegen, und allein darüber geschrieben zu haben, adelt. Wer aber schreibt über jenen unspektakulär abgestürzten Feuerwerkskörper, der schon seit Silvester auf dem Dach des alten Altonaer Güterbahnhofs modert? Nicht weit von Luke 40 liegt er übrigens – jener Luke, in die das Theater N.N., wären nur Heizung, Isolierung und Wärmedämmung dagewesen, ab April hätte einziehen können. Wer spricht zudem noch über die abgestürzten Träume von einen Kulturbahnhof auf dem katzenkopfgepflasterten Gelände des Jahrhundertwende-Backsteinbaus?

„Entweder man lagert da Säcke ein, oder man denkt sich einen Kulturbahnhof aus“, hatte im März 1999 Frank Wiesner, Verkehrsplaner der Immobiliengesellschaft der Deutschen Bahn, gesagt. Aber was sind in Zeiten der schnellen Schnitte schon zwei Jahre. Und wer würde jetzt noch ernsthaft diskutieren wollen, dass das damals keine rhetorische, sondern eine tatsächlich offene Frage war? Denn genau das damals süffisant Belächelte soll jetzt passieren: Als Lagerhalle einer Spedition soll ein Areal von 8000 Quadratmetern vermietet werden, und „das Theater N.N. nutzt die einzigen Räume, die als Büro oder Sanitärräume taugen“, erklärt Markus Tenten, für das Objekt verantwortlicher Immobilienmanager der Deutschen Bahn. Tja, und wo solch kahler Pragmatismus waltet, muss die Kunst eben weichen: Zum 31. März dieses Jahres ist dem Off-Theater, das noch nie irgendeinen Förderpfennig bekam, gekündigt worden, wobei man der Bahn plumpe Kulturfeindlichkeit gar nicht unterstellen mag: Die übrigen Mieter – das Kunstzentrum Leonardo, das Hamburger Schauspielstudio und die taz hamburg – haben durchaus längerfristige Verträge. Doch Dieter Seidel, dem künstlerischen Leiter des Theaters N.N., war das ursprünglich gemietete Areal von rund 150 Quadratmetern zu klein; er wollte 100 Quadratmeter dazumieten und über die Gesamtfläche dann einen längerfristigen Vertrag abschließen. „Im April 2000 haben wir – das Theater N.N. und ein Vertreter der Immobiliengesellschaft der Deutschen Bahn – das Gelände besichtigt, und von Seiten der Bahn hieß es, wenn man mit Ausrechnen fertig wäre, könne der Vertrag unterschrieben werden.“ Mehr als eine mündliche Zusage gab es aber nicht, und ab Juni begannen die Aussagen der Verhandlungspartner bei der Bahn zögerlicher zu werden: Vielleicht, weil intern Bilanzen neu geordnet wurden, vielleicht, weil die Vermarktung jeder noch so kleinen Bodenkrume als universelle Rettung für die finanzkranke Bahn AG betrachtet wurde. Auch das abgebrannte Eisenbahnmuseum in Wilhelmsburg soll übrigens, so kürzlich eine Lapidar-Meldung, vo-raussichtlich geschlossen und das Gelände anderweitig vermarktet werden.

Ein Nachmieter stehe schon in den Startlöchern, hat man Dieter Seidel dann auch mitgeteilt. „Wir müssen noch ein paar Umbaumaßnahmen planen“, sagt Tenten kryptisch. Sobald die Vorplanung fertig sei, könne der Vertrag mit demjenigen unterschrieben werden, mit dem man im Gespräch sei. Allein wer es ist, soll dann doch geheim bleiben. Auch Seidel soll mit dem Nachmieter nicht über eine eventuelle Weiternutzung verhandeln dürfen. Soll man dahinter nun eine Chimäre vermuten? Das Kalkül eines synthetischen Marketingchefs, der findet, dass sich ein zu übernehmender Untermieter schlecht macht in einem Vermietungsangebot? Oder liegen der Aktion einfach Ressentiments jener Bahnmanager zugrunde, die den alten Güterbahnhof-Zeiten nachtrauern, und das Altonaer Gelände endlich wieder seiner Bestimmung zuführen wollen? Interessante Themen übrigens auch für die von Mai bis Ende Juli dieses Jahres im Altonaer Museum geplante Ausstellung Der Altonaer Bahnhof im Wandel der Zeiten, die – so betonte bei der Vorschau Kurator Hajo Brandenburg – aktuelle Diskussionen nicht aussparen will.

Aber wie auch immer – Tatsache ist, dass das Theater N.N., seit fünf Jahren existent und ursprünglich Tourneetheater, aber seit Anfang 1999 in der Harkortstraße 81 ansässig, ungünstigst zwischen die Räder geraten ist: Exakt in jener Zeitspanne, in der der neue Vertrag ausgearbeitet werden sollte, scheinen sich bahnintern Machtverhältnisse und Blatt gewendet zu haben; Kulturbahnhof-Befürworter Konstantin Falke arbeitet inzwischen nicht mehr bei der Immobiliengesellschaft der Deutschen Bahn.

Dabei sei es keineswegs so gewesen, dass die Bahn keine Alternativen geboten hätte, berichtet Seidel: Besagte Luke 40 schräg gegenüber vom jetzigen Theater-Standort sei im Gespräch gewesen, habe sich aber schnell als ungeeignet entpuppt, da nur rudimentärst instand. Das neue Angebot: die alte Kleiderkammer in der Harkortstraße 25, ein Backsteingebäude mit hohen Räumen, für die sich Seidel sofort begeistert hat – aber auch hier sieht er keine Perspektive: Einen jederzeit zum Quartalsende kündbaren Vertrag hat ihm die Bahn angeboten. Mehr sei nicht drin, „weil sich das Objekt in Veräußerung befindet“, so Bahn-Immobilienmanager Tenten. Auch gebe es nicht näher definierte „Überlegungen zum Gesamtareal“. Abgerissen werde das Gebäude aber „wahrscheinlich nicht“, versichert Tenten. Unter Denkmalschutz steht es allerdings auch nicht, so dass die Bahn freie Hand hat, was Wohl und Wehe von Raum und Mietern betrifft. Und da mag sie sich halt nicht gern festlegen.

Von Sturheit gepeinigt sind nun zwar weder Seidel noch seine Mitstreiter, aber „ein bisschen Planungssicherheit brauchen wir schon“. Weitere Raumsuche ist also angesagt. Ein für das Theater beklemmend typisches Thema, haben Seidel und seine Leute – kein festes Ensemble, aber ein konstant spielender Kern von vier Schauspielern und einem Ausstatter – Räume doch schon immer gereizt: In alten Burgruinen, den Trierer Kaiserthermen, im Wald und im Kloster Chorin hat das Theater N.N. schon gespielt. Und hat dabei immer auf die „Poesie des Lichts“ geachtet, die Seidel, der in Babelsberg Filmregie studierte und noch vor der Wende aus der DDR kam, schon immer fesselte. „Mich reizt es, einen Raum auszuleuchten und Details aus ihren düsteren Ecken hervorzuholen“ und die Poesie der Düsternis wie Caravaggio im 16. Jahrhundert gegen das Licht zu setzen. Einen Ort der Ruhe möchte das Theater bieten, das immer ein delikates, unberechenbares Programm zusammenstellt: Wenig-Personen-Stücke stehen auf dem Plan; lapidar sind sie deshalb aber keineswegs: Shakespeares Was ihr wollt und sein Sommernachtstraum waren im Repertoire, als das Theater noch tourte; ein Riesenerfolg – „das haben 2500 Zuschauer in sieben Wochen gesehen“ – war die im vorigen Sommer in Hamburg präsentierte Weill-Revue, die den Gabelstapler, allerlei herumstehendes Frachtgut sowie die riesige Lagerhalle einbezog. Auch jüdische Themen lassen Seidel nicht los: Joshua Sobols Ghetto stand schon auf dem Programm; im vorigen April hatte Seidel den inzwischen verstorbenen polnischen Komponisten Wladyslaw Szpilman, der die Nazi-Ockupation in Warschau überlebte, nach Hamburg geholt; Taboris zurzeit wieder gespieltes Stück Weisman und Rotgesicht nähert sich aus respektlos anderer Richtung dem Holocaust.

Ein weiterer Focus liegt auf Beziehungskomplikationen: Die langsame Wandlung des Sohnes in seine Mutter und wieder zurück in Joop Admirals Du bist meine Mutter präsentieren die Akteure dem Publikum; die Verschmelzung von Traum und Wirklichkeit irrlichtert durch Schubert und Franz. Zerrissene wie Camille Claudel leuchten die Akteure von innen heraus, und zurzeit läuft Jean Cocteaus für Edith Piaf geschriebenes Porträt einer Eifersüchtigen, die sich als Unbekannte Schöne an einem granitenen Mann abarbeitet.

Was die Stücke eint? Immer jener Hauch von Unbegreifbarkeit, „komprimierte Wirklichkeit“, wie Seidel es nennt, jenes Quäntchen Nichtverstehen, in das sich die Schauspieler hineinwühlen und das sie dem Publikum wieder entgegenwerfen, ohne ihm die Möglichkeit zur Flucht zu lassen. Denn Seidel, der auch Regie führt, möchte Wahrhaftigkeit gegen die „heute modernen Regieeinfälle und -eitelkeiten“ setzen, „bei denen der Regisseur sich selbst feiert und den Autor eher als Feind denn als Freund betrachtet“. Sicher, Seidel habe auch mal Autoren zerstört, „aus reiner Lust“, damals, als er jung war. „Aber diese Phase habe ich inzwischen überwunden.“

Überwunden ist allerdings noch keineswegs die Geldnot des Theaters: Zwar hat das N.N. allein zwischen Januar 2000 und Januar 2001 einen Einnahmen- und Zuschauerzuwachs von 25 Prozent erzielt. Und inzwischen kann man auch komplett die Miete erwirtschaften. „Aber verdient hat hier noch keiner einen Pfennig. Und wenn Ingo nach zehnstündigem Kellnerjob hier noch eine anspruchsvolle Rolle probt, ist das auf die Dauer auch auslaugend – und einen Brotberuf hat natürlich jeder von uns.“ Deshalb wäre es schon eine große Entlastung gewesen, die jetzt bereits zum vierten Mal abgelehnte Basisförderung der Kulturbehörde zu bekommen. „Davon hätten wir ein Jahr lang die Miete bezahlen können und künstlerisch ein paar Freiräume bekommen.“

Doch der Fördertopf für Freie Theaterproduktionen – seit sieben Jahren nicht erhöht – scheint mit seinen 600.000 Mark ein Tropfen im weiten Meer: „600.000 Mark für acht Hamburger Gruppen“ ist die jüngste Pressemitteilung der Kulturbehörde munter überschrieben. Unterteilt ist der Betrag in Posten zwischen 50.000 und 100.000 Mark; daneben nehmen sich die vom Theater N.N. gewünschten 25.000 eher bescheiden aus. Dass von den acht geförderten Projekten allein sechs auf Kampnagel gespielt werden, wirft ein merkwürdiges Licht auf die offiziell gewünschte Spielstättenvielfalt. Aber das kann natürlich ein Zufall sein.

Erschwerend kommt außerdem für die beratende Jury hinzu, dass aus dem 600.000-Mark-Topf nicht nur Theater, sondern auch Tanz und Musiktheater bedient werden müssen. Die Kindertheater waren, so scheint es, geschickter als die Tanztheater-Szene: Vor einigen Jahren schon haben sie eine eigene Fördersumme von 200.000 Mark ertrotzt, über die eine eigene Jury berät. Trotzdem trösten solcherlei Argumente die verbleibenden 53 freien Theaterproduzenten, die sich ebenfalls um Förderung bemüht hatten nicht: „Idealismus kann kränkeln, wenn ihm die Anerkennung versagt wird“, sagt Dieter Seidel. Und das wortreiche kulturbehördliche Lob des bunten Off-Theater-Tupferls hilft irgendwann auch nur noch wenig. Besonders dann, wenn man gleichzeitig weiterspielen, umziehen und eventuell künftig mehr Miete zahlen muss. Aber immer fröhlich bleiben.