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: Wladimir Kaminer über deutsche Kurorte

Weltoffener Maultaschen-Tourismus

Seit September reise ich mit meinem Buch „Russendisko“ durch Deutschland. Besonderes oft und gern werde ich außerhalb der Saison nach Baden-Würtenberg eingeladen – in die zahlreiche Kurorte und Kleinstädte dort. Ich kenne sie inzwischen alle: Bietigheim und Bad Wimpfen, Wiesloch und Nußloch und Haßloch . . . Eine Burg, eine Brücke, ein Schweinemuseum, ein Maultaschenrestaurant.

Die Touristen werden hier im Winter sehr vermisst. Nur das Winterbockbier und ein umfangreiches Kulturprogramm sorgen dafür, dass die Bevölkerung nicht missmutig wird. Auf den Straßen sieht man selten jemanden. Die meisten Einheimischen sitzen in den Kneipen und führen lange Wintergespräche. Die zwanzig Sorten Maultaschen repräsentieren die internationale Küche und die Weltoffenheit des Landes. Es gibt alles: scharfe Maultaschen auf mexikanische Art, Maultaschen à la France, China-Maultaschen, die wie platt geklopfte Frühlingsrollen aussehen, und so weiter. „Sind Sie ein Computerspezialist?“, fragte mich der Taxifahrer am Wieslocher Bahnhof. Ja, auch, nickte ich mit dem Kopf. Ich wollte den Fahrer nicht enttäuschen. Nur Computerspezialisten fahren in Wiesloch im Winter Taxi. Dort befindet sich nämlich die SAP-Fabrik, die beste Softwarefabrik Deutschlands, wie die Einheimischen stolz behaupten.

Eine andere Sehenswürdigkeit der Stadt ist das Irrenhaus, das mit mehreren tausend Patienten eines der größten Irrenhäuser des Koninents ist. Dort leben in einem speziellen Trakt immer noch einige dutzend deutsche Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg, die noch nicht kapituliert haben, sowie auch etliche Zwangsarbeiter aus ehemals besetzten Gebieten, die auch alle irgendwie in der Vergangenheit stehen geblieben sind. Diese Leute sterben jetzt aber langsam aus. Um mir die Zeit zu vertreiben, wollte ich das ländliche Kulturangebot in Anspruch nehmen.

Dazu sammelte ich die regionale Presse. Jede Kleinstadt hat ihre eigene Zeitung. Die Wieslocher Woche darf man nicht mit der Nußlocher Woche verwechseln. Obwohl für beide Zeitungen klar ist, dass die CDU der Garant sowohl für die Wieslocher als auch für die Nußlocher Zukunft ist.

Überall wird etwas gefeiert: Auf dem Polizeirevier wird der älteste freiwillige Polizist Deutschlands in den Ruhestand verabschiedet. Seit 34 Jahren war er dabei und immer einsatzbereit. Sein Engagement im Kampf gegen Wieslocher Kriminellenbanden wird vom Polizeipräsident mit der obligatorischen Urkunde belohnt. Bis jetzt ist ungeklärt, wer sich nun und wie um die zwei Landschildkrötenbabys kümmert, die letzte Woche aus dem Wieslocher Terrarium gestohlen wurden.

Das Kulturleben in Wiesloch rauschte mit seiner ganzen Vielfalt an mir vorbei. Den Schlafmützenball in der Festhalle des psychiatrischen Zentrums habe ich um einen Tag verpasst. Ein Mitarbeiter des Krankenhauses erzählte mir aber danach, dass das Fest vor allem von jungen SAP-Computerspezialisten besucht wurde.

Die große Seniorensitzung des Hausfrauenbundes und der Karnevalsgesellschaft Blau-Weiß waren mir zu weit – man musste bis Alt-Wiesloch zu Fuß laufen. Und zur Winterfeier des Vereins für deutsche Schäferhunde im Bürgerhaus bin ich auch nicht gegangen. Ich habe Angst vor diesen Hunden. Stattdessen ging ich zu meiner eigenen Lesung, die aber auch gar nicht so übel war. Sie wurde vor allem von älteren SAP-Computerspezialisten besucht.