Schützt uns vor Zahlenspielen!

Die Bundesregierung fördert die Produkte der deutschen Versicherungswirtschaft. Dabei ist es höchste Zeit für eine Reform dieser sicheren, aber renditeschwachen Geldanlagen

Statt die Versicherungen zu fördern, sollte die Politik für verbraucherfreundliches Produktdesign kämpfen

Rund 250 Milliarden Mark Prämien wird die deutsche Versicherungswirtschaft allein in diesem Jahr von ihren Kunden kassieren. Dabei mangelt es nicht an oftmals nur allzu berechtigter Kritik: Oft sind Assekuranzverkäufer schlecht ausgebildet und drehen ihren Kunden unpassende Policen an; es fehlt an Transparenz und verbraucherfreundlichen Produkten; und obendrein zweigen die Konzerne zu hohe Gewinne von den versicherten Geldern ab. Trotzdem scheint sich die rot-grüne Bundesregierung in die Versicherungswirtschaft verliebt zu haben.

Erst im vergangenen Jahr freute sich die Assekuranz über einen plötzlichen Verkaufsboom für ihr wichtigstes Produkt, die (Kapital-)Lebensversicherung: Die Bundesregierung hatte angekündigt, ab 2001 alle neuen Verträge zu versteuern. Die Idee lieferte monatelang ein durchschlagendes Verkaufsargument – bis sie am Bundesrat scheiterte. Da kam die Rentenreform gerade recht. Das Zertifizierungsgesetz schreibt zwölf Bedingungen für Finanzprodukte vor, die in den Genuss staatlicher Rentenförderung kommen wollen.

So muss das angelegte Geld über 30 bis 40 Jahre – eben bis zur Rente – fest gebunden bleiben und das eingezahlte Kapital von Anfang an garantiert werden. Während Banken und Fondsgesellschaften weitab von diesen Kriterien liegen, sind sie der Assekuranz wie auf den Leib geschrieben – eine weitere Verkaufshilfe der Bundesregierung. Dabei sind selbst die Riester’schen Pensionsfonds für die betriebliche Altersvorsorge keine „richtigen Fonds“ nach angelsächsischem Muster, die mit Aktien und Hedge-Fonds spekulieren, sondern „Pensionsfonds“ nach Versicherungsart.

Angesichts der Begeisterung der Bundesregierung für die sichere, aber renditeschwache Geldanlage ist es höchste Zeit, eine Reform von Aufsicht und Regulierung der Versicherungen voranzutreiben. Lange dümpelte sie im Justizministerium dahin; jetzt ist zu hören, dass Verbraucherministerin Künast und Arbeitsminister Riester einen neuen Anlauf nehmen wollen – passend zum „International Consumer Day“ am kommenden Donnerstag.

Was Versicherungskunden vor allem dringend brauchen, ist Transparenz. Im Sommer 1994 erfasste der Europäische Binnenmarkt auch die Assekuranz. Seither dürfen in Deutschland anstandslos Policen aus EU-Ländern verkauft werden – und bundesdeutsche Verträge in Frankreich oder England. Damit entfiel aber auch die nationale staatliche Aufsicht. Produkte und Tarife können nun ohne langwierige Überprüfung am Markt angeboten werden. Ergebnis? „Ziemlich viel Chaos“, so die Verbraucherschützer.

Die EU-Deregulierung hat Tarife und Verträge fast unvergleichbar gemacht: Galten früher schlechte, aber wenigstens einheitliche Standards, können die Versicherer heute die Bedingungen und Tarifklassen nahezu frei wählen. Wohin diese vertraglichen Zusatzklauseln, Extras und Ausnahmeregelungen führen, zeigt das Beispiel einer älteren Dame, die eine USA-Reise teuer zu stehen kam. Herzprobleme verursachten einen Krankenhausaufenthalt in New York und damit Kosten von mehr als 30.000 Dollar. Ihre deutsche Reisekrankenkasse verweigerte aber die Zahlung und verwies auf eine „Staatsangehörigkeitsklausel“: Besagte Dame sei US-Bürgerin und daher bei einer Amerikareise nicht versichert.

Auf dem Versicherungsmarkt herrscht die neue Unübersichtlichkeit. Die Politik sollte angesichts dessen für ein verbraucherfreundliches Produktdesign kämpfen. Die Unternehmen müssen sich den Kopf für ihre Kunden zerbrechen – nicht umgekehrt! So sollte eine Hausratversicherung alles abdecken, was der gesunde Verbraucherverstand erwartet – und nicht nur im Brandfall zahlen. Oder: Die hohen Abschlusskosten, niedrige Rückkaufswerte und die geringe Überschussbeteiligung der ersten Vertragsjahre dürfen Kunden, die eine langfristige Lebensversicherung abschließen, nicht verschwiegen werden. Obendrein muss die Haftung für falsche und schlechte Beratung drastisch verschärft werden – um schon vorab alle dubiosen Vertreterversprechungen im Wohnzimmer zu unterbinden.

Es darf nicht länger auf die mangelnden Fachkenntnisse des Kunden spekuliert werden. So werben die Unternehmen für ihre überaus populäre (Kapital-) Lebensversicherung mit tollsten Beispielrechnungen. „Zahlen Sie monatlich nur 200 Mark und im Alter bekommen Sie 100.000 Mark zurück.“ Erst im Kleingedruckten findet sich dann der zarte Hinweis, dass diese Zahlenspiele vollkommen ohne Wert sind. Doch kaum ein Kunde begreift das tatsächliche Verhältnis zwischen Chance und Risiko. Garantiert sind weniger als 3,25 Prozent, Abweichungen zwischen den Unternehmen rechnen sich jedoch für den Versicherten in Mark und Pfennig. Bei Lebensversicherungen schwankt die Rendite der eingezahlten Beiträge zwischen 5 und 7 Prozent pro Jahr. Der kleine Unterschied kann nach dreißig Jahren bedeuten, eine monatliche Rente von über 1.700 Mark zu beziehen – oder nur von 900 Mark.

Die Unternehmen sollten künftig gezwungen werden, ihre realen Renditen zu veröffentlichen. Denn Durchsichtigkeit fehlt auch bei den üppigen Konzernanlagen in Aktien und Wertpapieren. Rund 1,5 Billionen Mark haben sich dort offiziell angesammelt – ohne stille Reserven. Eine Reform des Versicherungsrechts sollte die Unternehmen zwingen, ihre Kapitalanlagen insgesamt und für jeden einzelnen Vertrag offen zu legen.

Die EU-Deregulierung hat Tarife und Verträge fast unvergleichbar gemacht. Ergebnis: „Ziemlich viel Chaos“

Problematisch ist auch die Rolle des Bundesaufsichtsamts. Durch den EU-Binnenmarkt ohnehin nicht mehr für die Zulassung der Produkte zuständig, sondern lediglich für eine Plausibilitätskontrolle im Nachhinein, fehlt es den in Westeuropa zuständigen Agenturen (GB), Ämtern (D) und Ministerien (F) an europäischer Integration und schärferen Kontrollrechten. Wir benötigen zudem eine grenzüberschreitende EU-Oberaufsicht und eine weitere verbraucherfreundliche Vereinheitlichung des EU-Rechts.

Neben der Transparenz von Produkten und Unternehmen sowie einer verbesserten Aufsicht existiert ein vierter Problembereich: die Sicherheit der Versicherungsgelder. Früher, im abgeschotteten deutschen Markt mit seinen sicheren Profiten, waren Pleiten nahezu unmöglich. Der verschärfte Wettbewerb durch die Marktöffnung und die wachsenden Risiken – denken wir nur an die Rückversicherung von Naturkatastrophen – gefährden die Unternehmen anders als in der Vergangenheit. Konkurse in Japan oder Osteuropa warnen uns. Einlagensicherungssysteme wie bei Banken und Sparkassen existieren für die Versicherungen nicht. Bislang wurde eine Hand voll Pleiten von deutschen Versicherern branchenintern durch Übernahmen aufgefangen – aber darauf sollten sich Gesetzgeber und Kundschaft nicht länger verlassen. Künast und Riester haben viel zu tun, wenn sie den Verbraucherschutz nicht nur als Folgeproblem von BSE begreifen, sondern auch die Versicherungen einbeziehen wollen.

HERMANNUS PFEIFFER