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Japan, ein Wintermärchen

von CHIKAKO YAMAMOTO

„Beim Verlassen des Tunnels lag das Land im Schnee.“ So lässt der japanische Literaturnobelpreisträger Yasunari Kawabata seinen Roman „Schneeland“ beginnen. Und so präsentiert sich Japan im neuen Jahrhundert: Hinter dem Rezessionstunnel der Neunzigerjahre liegt eine bewegungslose Winterlandschaft, erfroren im System der liberaldemokratischen Partei (LDP) des (noch) amtierenden Premierministers Yoshiro Mori.

Wer sich heute auf die Spuren Kawabatas auf seiner Winterreise von der West- zur Ostküste, von Tokio nach Niigata begibt, findet hinter den Bergen das alte Schneeland. „Der Winter war hier immer ein Problem. Wir müssen gegen die Natur kämpfen“, sagt ein Bauer im Dorf Nishiyama. Hier lebte Kakuei Tanaka, in den Siebziger- und Achtzigerjahren der mächtigste Politiker Japans.

Ein japanisches Märchen

Mit Tanakas Aufstieg zum Regierungschef begann vor 30 Jahren Japans märchenhafte Geschichte vom Wohlstand. Der Premier verwandelte erst sein Dorf, dann seine Provinz und schließlich das ganze Land in eine riesige Baustelle. Und das Tanaka-System währt bis heute. „Ich habe es leicht“, sagt die Abgeordnete Makiko Tanaka, Tochter des großen Liberaldemokraten. „In Nishiyama sind alle Straßen, Brücken und Tunnel längst gebaut. Das hat mein Vater erledigt.“

So einfach hat es Premier Mori nicht. Tanaka ließ in den Siebzigern den Schnellzug Shinkansen nach Niigata bauen. Mori kann den Zug erst heute in seine Provinz Ishikawa holen – vielleicht zu spät. Der Premier wird für das Wirtschaftsdesaster verantwortlich gemacht. Keine zehn Prozent der Japaner stimmen seiner Politik noch zu. Zwar hat der Premier gerade einen Misstrauensantrag überstanden. Aber Mori erklärte am Samstag im Vorfeld des morgigen Parteitags der LDP, er wolle den Parteivorsitz abgeben. Da dieser Posten eng mit dem des Premiers verbunden ist, bedeutet das auch den nahenden Rücktritt vom Amt des Regierungschefs.

Der 1986 verstorbene Kakuei Tanaka bekam in seinem Dorf eine Gedenkstätte mit Büchern, die ihm Mao Zedong geschenkt hatte. Tanaka setzte die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit China gegen die Tokioter Ministerialbürokratie durch. Das war sein gutes Erbe. 1976 wurde er wegen Bestechlichkeit verhaftet. Das war sein schlechtes Erbe. Er schuf einen übermächtigen parteigebundenen Industriekomplex, der Japan bis heute von Globalisierung und Internetrevolution abschirmt.

Der Reformversuch des „Mister Yen“

Jahrzehntelang ging alles gut. Politiker versprachen Aufträge, Bauunternehmen setzten auf Expansion, Banken gewährten Kredit, die Landpreise stiegen. Dann brachen mit der Börse auch die Landpreise zusammen. Die Grundstücke verloren in den Neunzigern bis zu 80 Prozent ihres Werts. Seither gewähren Politiker Subventionen, bangen Bauunternehmen um ihr Überleben, verdecken die Banken ihre faulen Kredite.

Jetzt droht dem „eisernen Dreieck“ aus Liberaldemokraten, Ministerialbürokraten und Unternehmern der Einsturz: Auf 5,6 Billionen Dollar wird sich der öffentliche Schuldenberg Japans 2002 belaufen. Das Bankwesen leidet unter nicht rückzahlungsfähigen Krediten im geschätzten Volumen von einer Billion Dollar. Die von Subventionen und zurückgestellten Krediten abhängige Bauindustrie beschäftigt ein Zehntel der erwerbstätigen Bevölkerung. Sie arbeitet hauptsächlich mit Geld, das in den Kassen ihrer Gönner nicht mehr vorhanden ist. Die Folge: Japan steckt in der Schuldenfalle, und jeder Versuch, ihr zu entgehen, würde über Nacht in die bisher vermiedene Massenarbeitslosigkeit führen und die soziale Harmonie in dem nach der Einkommensverteilung egalitärsten Industrieland der Welt zerstören.

Veränderungen lassen auf sich warten. Eisuke Sakakibara, ehemaliger Topbürokrat des Finanzministeriums, in der Börsenwelt einst „Mister Yen“ genannt, steuerte 1996 den bisher einzigen ernsthaften Reformversuch der Liberaldemokraten, die Börse sowie das Steuer- und Rentensystem zu reformieren. Heute leitet er einen Tokioter Think-Tank. „Die japanische Variante des Kapitalismus hat bis in die Achtzigerjahre gut funktioniert. Ihr Erfolg ist der Grund für unser heutiges Scheitern“, sagt Sakakibara. Ende der Achtzigerjahre entwarf er in seinem viel beachteten Buch „Jenseits des Kapitalismus“ ein Wirtschaftssystem, das durch eine stärkere Einbeziehung der Lohnabhängigen das subjektive Gefühl der Ausbeutung beseitigt. Heute unterscheidet ein desillusionierter Sakakibara zwei Faktoren: „International konkurrenzfähige Unternehmen wie Sony und Toyota erwirtschaften in Japan nur zehn Prozent des Sozialprodukts. Und der zweite Bereich ist tendenziell wettbewerbsunfähig: Kleinunternehmen, Dienstleister und Agrarbetriebe werden durch Subventionen und Protektionsmaßnahmen von der LDP künstlich am Leben erhalten.“

Im Hafenbezirk Ota an der Bucht von Tokio schuftet seit Jahr und Tag Metallmeister Akihiro Takao mit seiner Frau in einer dunklen Fabrikhalle. Zwei Schweizer Entlademaschinen haben dem Familienbetrieb bis heute das Leben gerettet. Noch immer gibt es Aufträge vom benachbarten Großkonzern Toshiba. Doch ringsherum herrscht Totenstimmung. „Wissen Sie, warum es in dieser Gegend so viele Park- und Spielplätze gibt?“, fragt Meister Takao. „Früher standen dort Fabriken. Doch eines Tages kamen die Angestellten morgens zur Arbeit und fanden ihren Chef tot auf dem Boden liegen. Ich kenne ein halbes Dutzend, die sich umgebracht haben. Nach ihrem Tod gingen die Firmen Pleite.“

Dennoch sind in Tokio Arbeitslose, Armut und Not nur selten anzutreffen. Das Tanaka-System verdeckt die Wirklichkeit. Noch immer ist die mit 28 Millionen Einwohnern größte Stadt der Welt ein Hort des Wohlstands. In keiner anderen Stadt der Welt geben die Menschen mehr Geld für Essen und Kleidung aus. Nirgendwo sind Löhne auf hohem Niveau so gleich verteilt. Wer will da gegen die Regierung protestieren?

„Die Japaner genießen heute das Leben, weil sie keine Perspektive sehen. Dabei fühlen sie sich im Alltag nicht bedroht.“ Der 82-jährige Philosoph Shuichi Kato spricht vom japanischen Niedergang. „Man denkt, durch Boom und Rezession sei alles anders geworden“, analysiert Kato. „In Wirklichkeit aber leidet Japan heute an Schwächen, die es immer hatte. Gerade deshalb sind sie schwer auszumachen.“

„Japan braucht dringend Ausländer“

Kato erinnert daran, dass es schon auf der Höhe des japanischen Aktienbooms Ende der Achtzigerjahre zum guten Ton gehörte, die Wirtschaft des Landes als erstklassig, die Politik aber als drittklassig zu bezeichnen. „Korrupte Bürokraten und zu enge Beziehungen zwischen Politik und Wirtschaft hat es in Japan immer gegeben.“ Das Gleiche gelte für die Geschlossenheit einer Gesellschaft, in der auch Elitestudenten keinen anständigen Satz Englisch sprechen könnten. „Japan öffnet sich nur für den Handel. Die Internationalisierung findet in der Video- oder Popkultur, aber nicht in den Köpfen des Volks und seiner Elite statt. Auf der Frankfurter Buchmesse fällt Japan nur noch mit Mangas [japanische Comics; d. Red.] auf.“

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) gibt Kato Recht. Sie stellt fest, dass das reiche Japan das einzige Auswanderungsland unter ihren Mitgliedern ist. Dabei fehlt es natürlich nicht an Chinesen, Filipinos oder Indern, die sich im Inselreich niederlassen wollen. Doch die Japaner lassen sie nicht rein, während ihre besten Studenten in die USA auswandern. „Japan braucht dringend Ausländer“, warnt Weltökonom Sakakibara und bleibt damit ein unverstandener Außenseiter.

Wer will solche Warnungen im Dorf Nishiyama hören? Japans Liberaldemokraten haben ihre Machtbasis in den abgelegenen Provinzen, die vom Wahlsystem begünstigt werden. Dort aber will man nicht mit dem Internet, sondern mit dem Shinkansen an die Welt angebunden sein. „Seit Tanaka Tunnel und Straßen gebaut hat, dauert es von uns nur drei Stunden bis Tokio. Es ist unglaublich“, erzählt der alte Mann auf der Dorfstraße. Benutzt hat er den Zug zwar noch nie. Doch er wird aus Dankbarkeit weiter liberaldemokratisch wählen.

Banri Kaieda kann das kaum noch begreifen. Der 50-jährige Wirtschaftsexperte der Demokraten, Japans größter Oppositionspartei, kam vor zehn Jahren als Quereinsteiger in die Politik. Doch seine Hoffnung, mit Sachkompetenz und konkreten Reformplänen die Regierung zu eroberen, erfüllte sich nicht. „Alle sagen, man müsse das System ändern. Aber keiner wagt es. Niemand will radikale Veränderungen. Die Japaner haben verlernt, radikal zu denken.“

Wo bleibt da die Hoffnung auf Veränderung? Sakakibara hofft auf demokratische Wahlen, den Marktmechanismus und die Internationalisierung des Kapitals. Kato dagegen hofft auf den Druck von außen, der Japan in der Vergangenheit zu großen Leistungen antrieb. Metallmeister Takao hofft auf ein Ende des Konsumrauschs, dem eine größere Zuwendung zu spirituellem Glück folgen könne. Doch Umfragen bestätigen den Liberaldemokraten, dass sie auch mit dem unpopulärsten Premierminister aller Zeiten immer noch die mit Abstand populärste Partei sind. Also wird die ewige Regierungspartei erneut ihr altbewährtes Rezept anwenden und den Premierminister austauschen. Der japanische Winter hat erst begonnen.

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