Aufbruch bei Stunde null

Mit einer guten Leistung bei der Etappenfahrt Paris–Nizza will der Schweizer Alex Zülle die Chancen des neuen deutschen Rad-Teams Coast steigern, doch noch bei der Tour mitfahren zu können

„Wir kennen das Gefühl auf dem Podium, es fehlt das Gefühl des Sieges“

von MATTI LIESKE

„Wir fahren nicht auf Krawall“, erklärte Wolfram Lindner, sportlicher Leiter der Radsport-Mannschaft Coast, in Hinblick auf die Etappenfahrt Paris–Nizza, die am Sonntag mit dem Prolog in Nevers begann und nach sieben Etappen am kommenden Sonntag enden wird. Ein bisschen etwas von dem, was der 60-Jährige bei der Präsentation der Mannschaft versprochen hatte, sollte die zweite Kraft im deutschen Radsport nach dem Team Telekom allerdings schon vorführen. „Wir wollen uns zeigen und attraktiven Radsport bieten“, kündigte der einstige Erfolgstrainer des DDR-Radsports an, und das wird auch nötig sein, wenn Coast sein großes Ziel erreichen will: bereits im ersten Jahr des Bestehens an der Tour de France teilzunehmen. Vier Plätze sind noch frei – um eine der begehrten Wildcards zu ergattern, sind trotz namhafter Fahrer wie Alex Zülle oder Fernando Escartín ein paar gute Platzierungen bis zur endgültigen Nominierung Ende April dringend erforderlich.

Ein Sieg bei Paris–Nizza wäre „eine schöne Eintrittskarte für die Tour“, hatte Lindner schon zu Saisonbeginnn gesagt und vor allem für Zülle ist das Rennen die Gelegenheit, den Beweis anzutreten, dass er noch nicht zum alten Eisen gehört. Nicht nur für den italienischen Mitfavoriten Michele Bartoli ist der 33-jährige Schweizer einer der Anwärter auf den Gesamtsieg. „Ich will Paris–Nizza gewinnen“, hat Zülle selbst angekündigt, der im Frühjahr ein wahres Mammutprogramm absolviert, um zum einen das Team Coast in der Spitze zu etablieren, zum anderen, um sich in die ideale Form für eine potenzielle Tour-Teilnahme zu strampeln. Eintages-Klassiker wie Mailand–San Remo, Lüttich–Bastogne–Lüttich oder das Amstel Gold Race stehen ebenso auf Zülles Plan wie diverse Etappenfahrten. Und wenn er fährt, dann will er auch gewinnen. Sagt er wenigstens: „Mein Charakter ist so, dass ich jedes Rennen voll fahre.“ Es gab Zeiten, da war dieses „voll“ durchaus im Wortsinn zu verstehen. Alex Zülle war einer der Ersten aus dem Team Festina, der nach dem Tour-de-France-Skandal zugab, sich regelmäßig mit Epo gedopt zu haben, und mehr oder weniger reumütig seine Sperre absaß. Von diesen alten Geschichten will der bebrillte Schweizer, der oft als hoher Favorit für die Tour gehandelt worden war, es aber – auch wegen seiner der Sehschwäche geschuldeten Sturzanfälligkeit – nie ganz nach oben schaffte, jetzt nichts mehr hören: „Das ist Vergangenheit.“

Auch Wolfram Lindner ist sich sehr wohl bewusst, welcher Schatten nach wie vor über dem Radsport liegt, und präsentiert sich gern als Vorreiter eines Umdenkens. „Wenn wir clean sein wollen, müssen wir das Jahres-Rennprogramm auf 90 bis 95 Tage reduzieren“, sagt er, und im Winter schickte er seine Fahrer ins mexikanische Toluca zum Höhentraining. „Man muss neue Impulse im trainingsmethodischen Bereich setzen, wenn man guten, sauberen Sport bieten will“, propagiert Lindner. Die Fahrer gaben sich beeindruckt. „So viel habe ich im Winter in den letzten beiden Jahren zusammen nicht trainiert“, meinte Zülle, der zuletzt für das spanische Banesto-Team fuhr.

Um alle Register zu ziehen, kaufte sich der Textilunternehmer Günther Dahms für sein Team Coast nicht nur eine starke, vielseitige Mannschaft mit einem renommierten Chef zusammen, sondern versicherte sich auch der Dienste des berühmten Radkonstrukteurs Ernesto Colnago. „Ich habe allen Mannschaften Glück gebracht, für die ich gearbeitet habe“, sagt der Italiener selbstbewusst und das Gefährt, dass er für Zülle anfertigte, bezeichnete dieser bündig als „das beste Rad, wo ich je gefahren bin“.

Auf fünf Jahre ist die Perspektive des mit einem Jahresetat von mehr als zehn Millionen Mark gestarteten Team Coast zunächst angelegt, das klare Ziel ist, die Vormachtstellung von Telekom zu erschüttern. Zunächst geben sich die Leiter der neuen Mannschaft jedoch bescheiden und scheuen die direkte Kampfansage. „Telekom ist das beste Team der Welt“, sagt Dahms, „bei uns schlägt gerade die Stunde null.“ Auch Lindner, der „große Meister des Radsports“ (Colnago), betont immer wieder, das die Planung langfristig angelegt und eine Tour-Teilnahme schon in diesem Jahr keineswegs notwendig sei. Die Komposition des Teams, dem neben den Stars auch Leute wie der ehemalige Induráin-Helfer Aitor Garmendia oder der Schweizer Bergspezialist Roland Meier angehören, spricht eine andere Sprache. Ein gutes Mannschaftszeitfahren sowie starke Auftritte in den Bergen wären laut Lindner garantiert und die Topfahrer, die ja nicht mehr die Jüngsten sind, brennen auf die Tour. Fernando Escartín, der letztes Jahr in Frankreich mit dem starken Kelme-Team für Furore sorgte, gibt klare Ziele für Zülle (Tour-Zweiter von 1995), und sich selbst (Dritter 1999) aus. „Wir kennen das Gefühl auf dem Podium“, sagt der 33-jährige Spanier, „jetzt fehlt uns nur noch das Gefühl des Sieges.“

Escartín setzt darauf, dass die Tour-Veranstalter auf solch namhafte Radprofis wie die des Coast-Teams nicht verzichten werden, eine gute Platzierung bei Paris–Nizza könnte indes durchaus hilfreich sein. Der Kurs müsste Zülle liegen. Er ist schwieriger als im letzten Jahr, wo überraschend Telekom-Fahrer Andreas Klöden siegte, aber nicht extrem. Zwar ist der gefürchtete Mont Ventoux zu bewältigen, aber nicht, wie bei der letzten Tour, als Tagesziel, sondern in der Mitte der 4. Etappe am Donnerstag.

Beim Prolog war Alex Zülle 30 Sekunden langsamer als der Sieger Nico Mattan, ähnlich wie die übrigen Favoriten. „Alex ist auf der nassen Strecke kein Risiko eingegangen“, erläuterte Wolfram Lindner, der aber kein allzu großes Vertrauen in die aktuelle Verfassung seines Stars zu setzen scheint, der kürzlich bei der Valencia-Rundfahrt nicht gerade glänzte. „Ich wäre schon froh“, meint der Coast-Teamchef, „wenn Zülle mit besserer Form aus dem Rennen rauskommt, als er hineinging.“ Zeit wird’s. Spätestens im April wird es ernst im Kampf um die Eintrittskarte für die Tour.