Der pragmatische Visionär

Willy Brandts SPD war noch ganz mit sich im Reinen. Warum das so war, zeigen seine Notizen, Reden und Briefe aus den Jahren 1947 bis 1972, die jetzt in einer monumentalen Ausgabe ediert wurden

von WARNFRIED DETTLING

„Wenn in hundert Jahren Historiker die Regierungszeit des Kanzlers Willy Brandt beschreiben“, so hat der Publizist Peter Bender kürzlich einmal vermutet, „werden sie sich wohl nur noch seiner Ostpolitik widmen.“ Das wäre ja nicht wenig für eine kurze, nur viereinhalbjährige Kanzlerschaft (1969 – 1974), dass sie der Außenpolitik eine neue Richtung gegeben habe. Es könnte aber auch sein, dass sich in hundert Jahren nicht nur Historiker erinnern, sondern die SPD langsam auf ihr 250-jähriges Jubiläum zugeht. Dann dürfte im Rückblick das Vierteljahrhundert zwischen dem Jahre 1947, als Willy Brandt aus seinem Exil in Norwegen und Schweden nach Deutschland zurückkehrte, und dem Jahre 1972, als der erste sozialdemokratische Kanzler in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wiedergewählt wurde, eine besondere Bedeutung haben: Die SPD war in jener Zeit tatsächlich „auf dem Weg nach vorn“. Mehr noch: Im Jahre 1972 befand sie sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Mit 45,8 Prozent der Stimmen erhielt sie das beste Wahlergebnis ihrer Geschichte. Viele haben damals die Wahl Brandts zum Bundeskanzler als eine Zäsur erlebt – und gefeiert. Der Triumph war für Mitglieder und Sympathisanten der SPD umso vollkommener, als die SPD damals noch mit sich im Reinen war: Es gab noch den Begriff und es gab noch die Hoffnung dessen, was sich Demokratischer Sozialismus nannte.

Die Erinnerung an diese Zeit zwischen 1947 und 1972 hält nun ein monumentales Werk (659 Seiten) einer monumentalen, auf zehn Bände angelegten Berliner Ausgabe fest, die im Auftrag der Willy Brandt Stiftung von Helga Grebing, Gregor Schöllgen und Heinrich August Winkler herausgegeben wird. Der Band enthält eine Vielzahl von Quellen: Redemanuskripte, Briefe, Interviews, Notizen, kleine Abhandlungen, Zeitungsartikel, Presseerklärungen bis hin zu Protokoll- und Tagebuchaufzeichnungen.

Eine Archäologie der SPD

Dass es sich um ein verdienstvolles Buch handelt für die Zunft der Zeithistoriker ebenso wie für die Archäologie der SPD, das liegt auf der Hand. Darüber hinaus aber ist es wichtig und anregend für das Verständnis der Politik ganz allgemein. Die Probleme, vor denen eine Partei immer wieder steht, ändern sich weniger, als die Aufgeregtheiten des Tages vermuten lassen. Dass der Leser in der Fülle der Dokumente nicht den Überblick verliert über Themen und Wendepunkte im Leben Brandts und in der Entwicklung der SPD, dafür sorgt eine ausführliche, informative Einleitung von Daniela Münkel.

Der Schwerpunkt des Bandes liegt auf Brandts Beitrag zur Erneuerung und Modernisierung der SPD sowie auf deren Regierungsbeteiligung und seiner Kanzlerschaft. Anfang der 50er-Jahre ging es in der SPD vor allem um drei Fragen: um den Oppositionskurs gegenüber der Adenauer-Regierung, um eine Organisationsreform und um eine programmatische Erneuerung. Brandt lehnte den strikten Oppositionskurs des ersten Nachkriegs-Vorsitzenden der SPD, Kurt Schumacher, ab. Mit Carlo Schmid und Fritz Erler gehörte er zu den Erneuerern der Partei, die versuchten, deren „Ignoranz gegenüber gesellschaftlichen Verschiebungen“ zu überwinden. Es hat dann zwei massive Wahlniederlagen der SPD gebraucht (1953 und 1957), bis sich die Reformer durchsetzen konnten. Lange Jahre stellten sie eine Minderheit in der Partei dar. So hat Brandt 1954 und 1956 vergeblich versucht, in den Parteivorstand gewählt zu werden. Für die Bundestagswahl 1961 wurde er dann zum Kanzlerkandidaten nominiert, eine Institution, die es bis dahin nicht gegeben hatte und die sich später nicht nur in der SPD einer wachsenden Beliebtheit erfreuen sollte.

Den Durchbruch bei der Erneuerung der SPD brachten eine Partei- und Organisationsreform (1958), das Godesberger Programm (1959) und neue Personen mit Willy Brandt an der Spitze. Programmatisch verabschiedete die SPD damals die Vorstellung vom Sozialismus als einer gleichsam naturnotwendigen Entwicklung (seither ist er eine „dauernde Aufgabe“; sie distanzierte sich von der Planwirtschaft (fortan sollte gelten: „So viel Wettbewerb wie möglich, so viel Planung wie nötig“); schließlich stellte sie den Vorrang der Demokratie klar, die gleichwohl „durch den Sozialismus“ erfüllt werden sollte. Brandt hat sich anfangs nur zögerlich am programmatischen Erneuerungsprozess der Partei beteiligt, bewertete am Ende aber das Ergebnis, das Godesberger Programm, positiv. Ihm waren ursprünglich Richtlinien für die praktische Tagespolitik wichtiger als langwierige Diskussionen über Grundsatzfragen.

Praktisches Programm

„Entscheidend schien es mir darauf anzukommen, ein möglichst praktisches Programm herauszuarbeiten und eine Politik zu entwickeln, die den Weg zur Regierungsverantwortung erleichtern würde. Dabei mussten manche liebgewordenen Vorstellungen an der gewandelten Wirklichkeit gemessen werden.“ Dies geschah im Godesberger Programm in Wendungen, die neu genug waren, um eine „Runderneuerung der Partei“ (Brandt) deutlich zu machen, aber auch offen genug, um das Versprechen des demokratischen Sozialismus weiterhin wach zu halten.

Als ebenso bedeutsam für den langen Weg an die Macht wie die programmatische Erneuerung sollte sich die Änderung der Oppositionsstrategie erweisen: Die SPD gab etwa zur gleichen Zeit den strikten Konfrontationskurs auf, entdeckte die „Gemeinschaftsaufgaben“ und entwickelte eine „Gemeinsamkeitspolitik“. Brandt, Wehner und Erler, die erste und erfolgreichste Troika der SPD, hatten das neue Konzept erarbeitet. Zum einen waren sie überzeugt, dass zentrale innen- und außenpolitische Aufgaben nur über Parteigrenzen, also „gemeinsam“, gelöst werden konnten, und zum andern konnte die SPD auf diese Weise ihre Regierungsfähigkeit unter Beweis stellen. „Wir hatten das Gelände für dieses Bemühen um mehr Gemeinsamkeit in unserer Partei mit einiger Sorgfalt vorbereitet“. schreibt Brandt. „Unser Konzept hieß: Öffnung. Wir mussten eine neue Breite gewinnen. Wir mussten auf alte Gewohnheiten des Denkens und der Selbstdarstellung verzichten, um für das Neue bereit zu sein. Wir mussten Zöpfe abschneiden, ideologische und andere.“

Diese beiden Entwicklungen, eine neues, aber interpretationsfähiges Programm und die „Gemeinsamkeitspolitik“ bis hin zur Großen Koalition (1966 – 1969) legten dann auch die Grundlagen für die wilden 70er-Jahre in der SPD. Während in den 50er-Jahren die Führung der SPD und die Mehrheit in der Partei in der Regel die gleiche Politik und Weltanschauung vertraten, verlief die Konfliktlinie in den 60er-Jahren zwischen Parteiführung und mehr oder weniger großen Teilen der Parteibasis, der die „Gemeinsamkeitspolitik“ SPD zu weit ging.

Hoffnung Sozialismus

In den 70er-Jahren kam es dann zu einem grundsätzlichen Konflikt zwischen den Jungsozialisten in der SPD und der Regierungs-SPD. Brandts Führungsstil, den er selbst als „kollegial“ bezeichnete, versuchte zu vermitteln und zu integrieren. Das war seine Stärke, das war aber auch das Problem: Nicht nur der Wirtschaftsminister Karl Schiller und der spätere Kanzler Helmut Schmidt haben ihm deshalb „Führungsschwäche“ vorgeworfen. Der Briefwechsel zwischen Brandt und Schmidt entfaltet unterschiedliche Arten und Weisen, eine Partei zu führen. Für die Zukunft wichtiger aber ist eine andere mögliche Entwicklung, die in jener Zeit wurzelt. Die heute in der SPD und in der Regierung das Sagen haben, hatten damals ihre prägenden Jahre, ihre politische Sozialisation erfahren – in der Ablehnung der Politik der eigenen Regierung, in dem Streben, den Kapitalismus zu überwinden, und in der vagen Hoffnung, dass sich die Demokratie eines Tages doch noch durch den Sozialismus erfüllen möge. In den Texten Brandts findet sich das alles wie ein fernes Wetterleuchten, die damals jung und sozialistisch waren, schweigen sich über jene Jahre aus, und so weiß man nicht, was sie damals wirklich geglaubt haben.

Es ist in diesen Tagen viel von der Vergangenheit von Joschka Fischer und Jürgen Trittin die Rede. Könnte es sein, dass etwas anderes für die politische und gesellschaftliche Entwicklung viel folgenschwerer ist? Könnte es sein, dass Gerhard Schröder und andere, weil sie damals an das „Falsche“ geglaubt und sich die Finger verbrannt oder weil sie immer schon zu Ideen ein allenfalls taktisches Verhältnis hatten, künftighin lieber einem Kult des Pragmatismus huldigen, der sich für alle Zeiten von politischen Ideen der grundsätzlichen Art lieber fern halten möchten – und dass diese damals geprägte Disposition heute und morgen, in Zeiten der Biotechnologie und anderer Umwälzungen in Europa und der Welt an ihre Grenzen stößt?

Wie auch immer: Willy Brandt hat sich zeitlebens bemüht, möglichst alle einzubinden in seine „neue politische Mitte“, von der er 1972, nach der Wahl, sprach. Kurz vor dieser Wahl hat er noch einmal, in der Rede zum 20. Todestag von Kurt Schumacher am 20. August 1972, seine Vision von einem „demokratischen Sozialismus“ vorgetragen als einer „vollendeten Demokratie“: Zielvorstellung und praktische Richtschnur in einem. Heute liest sich diese Rede wie ein Abgesang. „Wir Sozialdemokraten haben nie geleugnet, dass wir Sozialisten sind.“ Das hat auch später kaum einer, aber keiner hat auch mehr davon geredet. Wegbegleiter wie sein Kanzleramtsminister Horst Ehmke haben später in dem Umstand, dass Brandt wegen Krankeit nicht an den Koalitionsverhandlungen teilnehmen und so den Schwung des Wahlsieges nicht in seine zweite Regierung mitnehmen konnte, den Anfang vom Ende gesehen. Aber die politische Müdigkeit Brandts und des Sozialismus hatten tiefere Ursachen. Die Themen, die Probleme, die Rahmenbedingungen der Politik waren gerade dabei, sich fundamental zu verändern. Es kam (1974) Helmut Schmidt; seine Regierungserklärung stand unter dem Motto: „Kontinuität und Konzentration“; acht Jahre später scheiterte er nicht zuletzt an seiner eigenen Partei und an den Gewerkschaften. Dann begann der lange Marsch durch die Wüste. Das Jahr 1998 werden die Sozialdemokraten einmal rückblickend erneut als Zäsur erleben, weniger für das Land als für ihre eigene Partei, als den Beginn einer Entwicklung, die man mit Brandts Worten durchaus als eine „Runderneuerung der SPD“ beschreiben kann, nicht infolge einer Programmdebatte, sondern durch Regierungshandeln. Vom demokratischen Sozialismus bleibt die Erinnerung.

Willy Brandt, Berliner Ausgabe, Band 4: „Auf dem Weg nach vorn. Willy Brandt und die SPD 1947 – 1972“, 658 Seiten, Verlag, J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2000, 54 DM