raus aus berlin etc.
: Schonungsloser Realismus auf der Insel Hiddensee

Wer lacht, fällt auf

Im Februar werden einem nicht selten die Unzulänglichkeiten des Lebens schmerzvoll bewusst, und man will gehen. Vorher möchte man aber noch einen Brief schreiben. „Liebe Steuerbehörde und liebe Umgebung“ steht darin. „Ich gehe weg. Dorthin, wo es endlich ruhig ist.“

Stille ist auf Inseln zu erwarten, denn sie liegen allein im Meer. Dass der Alkoholiker im Zug dorthin sagt: „Hier ist das Tal der Ahnungslosen“, stimmt einen unterwegs eher zukunftsfroh als melancholisch. Zur Entspannung läuft draußen vor dem Zugfenster ein Fuchs durch die Schneelandschaft. Und der Trinker meint: „Ich würde mich auch nie bevormunden lassen“. Das klingt gut nach Selbstbewusstsein. Vielen Alkoholikern in der Stadt ist diese Eigenschaft leider längst vor den kalten Supermärkten verloren gegangen.

Doch von glücklicher Sozialromantik bleibt auf dem Umsteigebahnhof Bergen auf Rügen wenig übrig. In einer Bäckerei treffen wir das traurigste Kind der Insel. Im Bus zur Fährstation sitzen nur schweigende Pärchen aus Berlin. Als wir in einer Hafen-Gaststätte einschlafen, weckt uns die Bedienung mit einem bösen: „Hier wird nicht geschlafen. Sie müssen sich schon an die Gesetzmäßigkeiten halten.“ Die schlechten Ehen an den Nachbartischen nicken vorwurfsvoll. Gerne setzt man mit der Fähre auf die nächste Insel über.

Auf Hiddensee herrscht seit jeher schonungsloser Realismus. Die Dörfer tragen Namen wie „Toter Kerl“, „Hucke“ oder „Harter Ort“. Schließlich ist der Alltag auf einer kargen Ostseeinsel nicht einfach. Unsere Pensionsfamilie Striesow verschuldet sich derzeit mit der Baustelle eines zweiten Bungalows. Für den Traum sorgloser Finanzierung guckt sie abends auf dem breiten Philipps-Fernseher „Wer wird Millionär“. Zu essen gibt es auf der ganzen Insel wenig. Die örtlichen Speiselokale schließen um acht Uhr abends. Immerhin hat der Wirt der „Seemöwe“ noch einen Diätjoghurt und Salzstangen da. Er rät uns: „Kaufen Sie sich morgen mal ein bisschen Wurst.“

Ansonsten ist alles wie jedes Jahr. Die Inselbewohner haben rote Gesichter vom nassen Wind. Sie hängen ihre Wäsche im Schnee auf und hören dazu „Forever Young“ in der Radiosendung „Leichte Brise“. Noch immer gibt es einen Strand nur für Hunde. Allerdings scheint sich Hiddensee zunehmend als Psychoreisen-Insel durchzusetzen. Die Zahl der Touristinnen, die man allein und nur mit Büchern ausgerüstet antrifft, ist enorm gewachsen. Wer hier lacht, fällt auf. Das macht wenigstens die Abreise leichter.

Im Zug beschleicht die Reisenden wieder die Angst vor Berlin. Ein Mann, der eine Fahrgastbefragung für die Deutsche Bahn durchführt, erkundigt sich, ob man zu einem Arztbesuch an die Ostsee gefahren sei. Ein linksradikaler Fahrgast, der uns gegenüber sitzt, weigert sich zu antworten

KIRSTEN KÜPPERS