berliner szenen
: Eine Woche in der AGB

Jugend forscht

Dienstag: Kommen die etwa jeden Nachmittag? Da studiert man Spiegel-Ausgaben aus den 50er-Jahren und will seine Ruhe haben, doch die Amerika-Gedenkbibliothek ist eben keine beliebige Bibliothek, wo im Lesebereich schon der kleinste Laut für hochgezogene Augenbrauen reicht. Hier trifft man sich zum Lesen und Studieren, aber noch mehr zum Schwatzen. Wie die Schüler, die hier gemeinsam Hausaufgaben machen. Ständig klingeln ihre Handys, trotz Handyverbots. Obwohl das nervt, kann keiner böse sein. Auch nicht die alten Männer, die in türkischen oder kroatischen Zeitungen lesen. Ich lausche den Russen, die sich daneben unterhalten und frische so ein paar Vokabeln auf.

Mittwoch: AGB-Mitarbeiter ertragen mit stoischer Ruhe immer wieder die gleichen Erkundigungen. Türkische Jungs wollen im Internet surfen und nerven die Dame vom Infotisch. Irgendwie kapieren sie nicht, dass an den Terminals nur der „Bestand“ der Bibliothek abgefragt werden kann. Ob die Jungs überhaupt verstehen, was mit Bestand gemeint ist? Und warum schickt die Bibliothekarin sie nicht einfach eine Treppe tiefer in die Kinder- und Jugendbibliothek. Horden von Kids belagern hier die Zeitschriftenständer und blättern in Bravo und anderen Zeitschriften, schreiben E-Mails oder hängen einfach rum. Die AGB ist Berlins größter Jugendklub. Mittendrin im lauten Trubel stehen zwei riesige, ziemlich alt aussehenden Apparate, an denen man Mikrochips und Mikrobänder einsehen kann. Die Geräte benutzt kaum einer, so gibt es keine Wartezeiten, wenn man die FAZ-Ausgaben der letzten Jahrzehnte Revue passieren lässt. In Schwarzweiß, die Bilder sehen im Negativ wie Scherenschnitte aus.

Donnerstag: An den wenigen Laptop-Arbeitsplätzen trifft man mit der Zeit auf alte Bekannte. Der ältere Herr rechts zum Beispiel legt mal wieder seine Tarotkarten. Nur der Althippie mit langen Haaren und Parka ist zum ersten Mal da. Er hat einen Bildband mit Kirchen aufgeschlagen und starrt abwechselnd auf das Gotteshaus in Kyritz und auf meinen Bildschirm. Nach einer halben Stunde holt er einen Apfel heraus und beißt so hinein, dass es spritzt. Cola gibt es im Automaten für 1,50 Mark, der Kaffee ist ungenießbar, genau wie die Pommes vom Stand vor der „Domäne“ gleich nebenan. Wer hier ganze Tage verbringt, versorgt sich also am besten selbst. Dafür ist die Klofrau der AGB nett und erkennt dich, wenn du öfter kommst. Dann kriegt man auch mit, dass das Fünfzigpfennigstück immer ganz genau in der Mitte des Tellers liegt. Irgendwann fällt einem auf, das es festgeklebt ist. Sicher ist sicher. Draußen vor dem Fenster hoppelt ein Kaninchen mit zerzausten Ohren vorbei, schnuppert an einer alten Bananenschale und ist schon weg.

Freitag: Um drei Uhr ist das Kaninchen wieder da und guckt dich scheinbar einen Moment lang an. Doch da ertönt aus dem Lautsprecher einer Frauenstimme, die alle „kleinen Bibliotheksbesucher“ zum Basteln einlädt. Diesmal steht „der Jahreszeit entsprechend „Frühjahrsschmuck“ auf dem Programm.

ANDREAS HERGETH