Wer nicht mitmacht, fliegt raus

Der Berliner Architektursoziologe Frank Roost hat sich in der Celebration-Siedlung in Florida, am New Yorker Times Square und in der Kirchsteigfeld-Siedlung von Potsdam umgesehen. Nun liegt das Ergebnis vor: Die Disneyfizierung der Städte ist in Europa angekommen – knallbunt und sicher

von HARALD FRICKE

Am 15. Juni 1997 blieb das Licht aus in Manhattan. Von der Fifth Avenue bis zum Times Square, auf einer Strecke von bald einem Kilometer, wurden Straßenlaternen und Wohnungsbeleuchtungen ausgeschaltet. Freiwillig. Das ist für New Yorker Verhältnisse sehr befremdlich, nachdem beim Stromausfall von 1977 tausende von Geschäften geplündert wurden. Doch diesmal brauchte niemand Angst zu haben: Die Verdunkelung gehörte zu einer bunten Parade, mit der die Premiere des Zeichentrickfilms „Hercules“ gefeiert werden sollte. Auf der nachtschwarzen Straße wirkten die hell strahlenden Umzugswagen wie ein wandelndes Feuerwerk.

Das Ereignis wurde auf fast allen Fernsehkanälen der USA übertragen. Plötzlich hatte sich die 42nd Street, das ehemalige Sex- und Drogen-Zentrum von Manhattan, in eine bunte Werbekulisse für die neueste Comicfigur des Disney-Unternehmens verwandelt. Wenig später konnte man dieselbe Szene auch im Film sehen: Nachdem Herkules die Schlange Hydra besiegt hat, reitet er in Theben ein, das bei Disney genauso aussieht wie der Times Square. Dort errichten die vom Monster befreiten Bürger dem Helden ein Denkmal – einen „Hercules Store“.

Der Sarkasmus, mit dem sich der Unterhaltungskonzern als Sandmännchen des amerikanischen Traums vermarktet, ist beachtlich. 225 Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung gegenüber der britischen Krone haben die USA die Monarchie wieder eingeführt – und Mickey Mouse ist König. Wie es dazu kam, schildert Frank Roost in seiner Studie zur Disneyfizierung der Städte. Dabei ist der Berliner Architektursoziologe weder an Verschwörungstheorien noch an huxleyscher Kontroll-Science-Fiction interessiert, sondern einfach nur sehr fachkundig. Tatsächlich geht der Umbau der Metropole zum Freizeitpark auf ein Dilemma der 50er zurück. Damals wurden Großstädte wie Los Angeles oder Philadelphia durch die Suburb-Besiedlung der Randgebiete zerstört.

In diese Zeit fallen auch die ersten Stadtgründungsfantasien von Walt Disney. Vorbild ist für ihn die Weltausstellung in New York 1939, ein Mikrokosmos, der die technische Überlegenheit der USA in einem familienkompatiblen Spektakel aufgehen ließ. Entsprechend richtet auch Disney seine Märchen-, Comic- und Zukunft-Themenparks in Anaheim oder Orlando als Museum des amerikanischen Pioniergeists ein – und als Showroom der eigenen Markenprodukte. Darin ist bereits Disneys Wunsch nach einer Umgestaltung der US-Gesellschaft angelegt: weg vom urbanen Dschungel und hin zu „neotraditionellen“ (Roost) Kleinstädten.

Die Vision des Zeichners ging erst nach seinem Tod in Erfüllung. Mittlerweile wurde die Celebration-Siedlung in Florida vom Disney-Konzern eröffnet, andere Projekte mit 10.000 bis 20.000 Einwohnern werden folgen. Mit strengen Vorgaben: Die Häuser dürfen nur in bestimmten Farben gestrichen sein, der Vorgarten muss ständig sauber gehalten werden, das Auto in der Garage auch. Wer nicht mitmacht, fliegt raus. Künstliche Kommunen, bürgerwehrartige Verhältnisse – ein Albtraum für 68er? Roost zumindest bezweifelt, dass die Stadtsimulation funktioniert, höchstens als Paradies für Rentner. Trotzdem hat sich das dazugehörige städteplanerische Konzept offenbar durchgesetzt, selbst in Potsdam: Dort wurde nach mittelalterlichem Vorbild 1996 die Kirchsteigfeld-Siedlung des Architekten Rob Krier fertiggestellt. Auch hier wird eine bessere Vergangenheit im Schutz von privaten Sicherheitsdiensten angeboten, in die sich verängstigte Berliner vor dem Großstadtmob flüchten können. Umgekehrt entstehen in Mitte immer mehr abgeschirmte Wohnobjekte im Stil der gated communities, als abgegrenztes und bewachtes Terrain. Alles läuft auf Segregation hinaus – ob im Grünen oder in Citynähe.

Anders als für Potsdam oder Celebration wurden in New York allerdings die ursprünglichen Anwohner vertrieben, um Rudolph Gulianis „Zero Tolerance“-Programm durchzusetzen. Der New Yorker Bürgermeister hatte per Verordnung verfügt, dass im Umkreis von 250 Metern um Kirchen, Schulen und Krankenhäuser kein Sexgeschäft mehr angesiedelt sein durfte. Der Times Square, der seit Anfang des vorigen Jahrhunderts die Reeperbahn von Manhattan war, konnte damit von Disney zum urban entertainment center umgemodelt werden. Roost führt diesen Wandel auf den Boom am Immobilienmarkt der Achtzigerjahre zurück, als New York zum führenden Dienstleistungszentrum ausgebaut werden sollte. Dann kam der Börsencrash, und der Aufstieg der Medien- bzw. Tourismusbranche veränderte auch die Pläne der Investoren: Unter der Vorherrschaft des Disney-Konzerns wurden anstelle der Bürotürme nun Nike-Stores, Cineplexxe und Shoppingmalls errichtet. Nicht von ungefähr war der führende Architekt des Projekts, Robert A. M. Stern, zugleich im Vorstand von Disney.

Bei aller Undurchsichtigkeit der Beziehungen, die Disney beim Kauf und Umbau eines der prominentesten Areale New Yorks geholfen haben mögen, hält sich Roost in seiner Kritik doch sehr zurück. Er spekuliert nicht über die Machenschaften der Bauherrn, sondern nutzt allein die Fakten, um dann aber zielstrebig darzulegen, wie sich die Privatisierung des öffentlichen Raums von den amerikanischen Vorstädten der Fifties bis nach Berlin-Mitte an den Potsdamer Platz ausgebreitet hat. Eine Lösung sieht er allein in einer breiteren, vor allem nachhaltigen Diskussion neuer Bauvorhaben: Wenn die soziale Polarisierung und Abgrenzung weiter mit „Freizeit- und Erlebniswelten“ überspielt wird, könnten nach dem Resümee von Roost „Disneys Projekte tatsächlich zum Modell für die Stadt des 21. Jahrhunderts werden“. Da hilft kein Sennett und kein Klagen.

Frank Roost: „Die Disneyfizierung der Städte“, leske + budrich Verlag, Opladen 2000, 161 S., 33 DM