Man steckt schließlich nicht drin

Die Nachricht, dass in Geflügelwurst auch Rind und Schwein drin sein darf, trifft den Verbraucher. Das schockiert, egal ob es schädlich ist oder nicht.

von MATTHIAS URBACH

Er sucht Ablenkung vom Alltag, doch am meisten fasziniert ihn Aldi. Er stürzt Politiker, doch seine Bank vertraut ihm keine EC-Karte an. Er glaubt nicht an Werbung, ist aber bei seinen Lieblingsprodukten markentreu – der Verbraucher.

Heute ist sein Tag. Weltverbrauchertag. Solche Tage werden eingerichtet für Gruppen und Dinge, die sonst gern übersehen werden. Doch dieses Jahr braucht der Verbraucher seinen Tag nicht. Er ist der Star. Ein Star, der allerdings eher gefürchtet wird als geliebt. Ihm wurden bereits zwei Minister geopfert und ein neues Ministerium geschenkt. Mehr Aufmerksamkeit geht nicht. Der Verbraucher ist auf dem besten Wege, den Wähler als wichtigsten Adressaten der Politik zu verdrängen.

Doch wer ist dieser Verbraucher eigentlich? Wie tickt er? Warum verweigert er nun so massenhaft den Rindfleischkonsum? Aus Angst? Aus politischem Kalkül? Oder weil er einfach keine Lust mehr auf Rind hat? Und wie mächtig ist er wirklich? Kann er eine Industrie in den Abgrund stürzen, mit seinem Konsumverhalten Wahlen entscheiden? Oder ist er eher schwach, überfordert von der schieren Zahl neuer Möglichkeiten?

Die einfachste Sicht liefert der Volksmund: „Der Kunde ist König.“ Doch wenn der Verbraucher König ist, dann wohl so einer wie Prinz Charles. Einer, dem stets die Aussicht auf die Regentschaft vor die Nase gehalten wird, um ihn auf Trab zu halten. Einer, der sich noch so sehr bemühen kann und doch nicht bekommt, was er will. Die Hoffnung, aus einem meterlangen Drogerieregal das richtige Shampoo herauszugreifen, aus dem Branchenbuch die richtige Versicherung, ins Telefon die günstigste Call-by-Call-Nummer einzutippen, scheint ebenso vergeblich wie Charles’ Chancen, die richtige Frau zu finden und den Thron zu gewinnen.

Und noch etwas teilt der deutsche Verbraucher mit dem Prinzen: Er ist desillusioniert – und das gleich dreifach. Mit BSE verlor er die Illusion, deutsche Lebensmittel seien grundsätzlich von anständiger Qualität. Nun musste er erfahren, dass in seiner Wurst auch vom Knochen abgeschabte Fleischreste, Hirn und anderer Abfall verarbeitet wurden. Er verlor weiter die Illusion, deutsche Lebensmittel seien sicher.

Und schließlich platzte die Illusion des Verbrauchers, er wisse, was er kauft. Die Nachricht, dass in Geflügelwurst auch Rind und Schwein drin sein darf, traf ihn schon schlimm genug. Noch mehr verunsichert ihn, dass sich Rinderprodukte überall finden lassen, ob in Fertiggerichten, Joghurt oder Arzneimitteln. Das schockiert, egal ob es schädlich ist oder nicht. Fest hat der Verbraucher geglaubt, er könne sehen, was er isst. Tatsächlich sieht er Joghurt – und isst gemahlene Rinderknochen.

Aus Sicht der Wirtschaft und ihrer Marketingstrategen ist der Verbraucher ein unsicherer Kantonist. Statistisch genau vermessen, lässt er sich trotzdem nur schwer erfassen. Nur grobe Trends sind sicher: So greift er seit Jahren immer mehr zu billigen Produkten. Zwei Drittel erklären heute, bei „besonders preisgünstigen Quellen“ zu kaufen. Vor zehn Jahren sagte das gerade mal einer von zehn. Die Sparsamkeit geht so weit, dass Aldi als besonders faszinierende Marke gilt, nahezu gleichrangig neben Mercedes und Ferrari.

Mit zunehmender Sparsamkeit geht auch die Markentreue zurück, wenn auch immer noch stolze 60 Prozent zu ihren Lieblingsmarken halten. Für die Marktforscher der Gesellschaft für Konsumforschung eine „ernüchternde Bilanz“. Sie würden gern weiter groß beworbene Produkte zielsicher an den Verbraucher bringen.

Die grundlegenden Bedürfnisse des Verbrauchers sind inzwischen befriedigt: Waschmaschine, Fernseher, Auto hat er schon. Er sucht nun emotionale Erlebnisse und Selbstverwirklichung – die Wünsche werden immer widersprüchlicher, individualistischer und unberechenbarer. Ein Albtraum für die Wirtschaft. Sie versucht dem zu entgehen, indem sie den Verbraucher immer genauer vermisst, ihn durch Soziologen und Psychologen ausfragen und analysieren lässt. So entstehen immer ausgefeiltere und kleinere Zielgruppen. Und die Wirtschaft gewöhnt sich daran, dass dieser Verbraucher eigentlich alles kauft, was ihm an Ausgefeiltem vorgesetzt wird. Ein Trugschluss. Trotz allen Wissens kriegen sie die BSE-Krise nicht in den Griff. „Wenn so eine Welle anrollt“, sagt Ulrich Plönissen, Marketingchef des Fleischwarenlieferanten Könecke, „kann man erst mal gar nichts machen.“

Aus Sicht der deutschen Juristen war der Verbraucher lange ein zu behütender Mensch. Ein Klient, der das Angebot nur oberflächlich sichtet, den man folglich streng vor irreführender Werbung und vollmundigen Verlockungen schützen muss. Doch ausgerechnet in einer Zeit, in der dem Verbraucher immer mehr abverlangt wird, er auch Energieversorger und Altersversorgung selbst aussuchen und sogar um Preise feilschen soll, ändert sich mit dem Einfluss aus der EU der Blick. Die europäischen Richter gehen in ihrer Rechtsprechung eher davon aus, dass der Verbraucher „aufmerksam und verständig“ ist.

Aus Sicht der Verbraucherschützer ist der Verbraucher schwach – einer, den es vor den Unternehmen zu schützen gilt. Während die Hersteller einen Überblick über die Konkurrenzprodukte haben, hat der Kunde sie schließlich nicht. Und wenn der Verbraucher nicht weiterweiß, wendet er sich an die Verbraucherzentrale. Doch auch die Verbraucherschützer können nicht verhindern, dass der Verbraucher sich nur allzu gern der Konsumwelt ergibt und auf Raten und mit EC-Karte mehr kauft, als er sich leisten kann. Nein, nur 14 Prozent der Verbraucher glauben der Werbung. Aber kaufen, was dort präsentiert wird, tun sie trotzdem gern. 62 Prozent gar als Ablenkung vom Alltag – offenbar viele auch abgelenkt von ihrem Guthaben. Drei Millionen Haushalte gelten als überschuldet.

Das alles übersieht die Politik geflissentlich: Aus ihrer Sicht ist der Verbaucher vor allem stark. Hat er nicht 1995 so bravourös Shell in die Knie gezwungen, als der Konzern die Ölplattform Brent Spar einfach im Meer versenken wollte? Und hat er den Nahrungsmittelherstellern nicht deutlich gemacht, dass er kein Genfood isst? Die Umweltverbände, allen voran Greenpeace, haben den Verbraucher stark gemacht. Als Detektiv war er für Greenpeace aktiv und durchforstete in den Supermärkten die Regale nach genmanipulierten Schokoriegeln und Fertiggerichten. Die Umweltschützer sammelten die Daten – und konfrontierten den Handel mit den Funden. Der reagierte aus Angst vor Imageverlusten schnell. So was macht Eindruck auf die Politik. Und so einem mächtigen Verbraucher will sie um keinen Preis in die Quere kommen. Warum soll man für die Agrarindustrie noch den Kopf riskieren, dachte sich die rot-grüne Regierung und vollzog eine 180-Grad-Wende in der Agrarpolitik. Und selbst die bauernfreundliche Union hat plötzlich Beißhemmung: Bloß nicht mit diesem Verbraucher anlegen! Wer weiß, wie der reagiert.

Von dieser Macht spürt der Verbraucher selbst freilich wenig. Er fühlt sich nicht als König, eher als Prinz, der vergeblich versucht, das Richtige zu tun. Er schwimmt weiter durch den Warenstrom, kauft hier mal Schrott, da zu viel und dort das Richtige. Und wenn er sich mal so richtig verarscht fühlt, dann kauft er eben mal für eine Weile kein Rindfleisch. Nicht nur aus Angst, nicht nur aus Protest. So flexibel ist der deutsche Verbraucher inzwischen geworden: Es muss ja nicht immer Rindfleisch sein. Ach nein, danke schön!