Vom Bildungsverlierer zum Arbeitslosen

taz-Serie „Migration und Bildung“ (Teil 9): Schulabbrecher haben kaum Chancen auf Ausbildungs- oder Arbeitsplätze. Vor allem junge Ausländer reagieren auf diese Ausgrenzung immer aggressiver. Doch hinter dem Bildungsnotstand verbirgt sich nicht nur ein ethnisches, sondern auch ein soziales Problem

von UWE RADA

Als sie noch zur Schule gingen, waren Tayfun und Nils Freunde. Später haben sie sich aus den Augen verloren, und irgendwann, in Neukölln, treffen sie sich wieder. Nils ist inzwischen bei der Polizei. Tayfun besitzt ein kleines Café und dealt mit Drogen. Bei einer Razzia in Tayfuns Café versteckt Nils ein Päcken Heroin. Nils, der Bulle, ist auch Nils, der Freund, geblieben.

Mit der am Ende tödlich verlaufenden Geschichte der „Freunde“ Nils und Tayfun hat der Regisseur Martin Eigler in seinem gleichnamigen Kinofilm ein Thema angesprochen, das man in Berlin derzeit gerne diskutiert, allerdings nicht bis zum bitteren Ende. Was geschieht mit jenen 30 Prozent der ausländischen und 10 Prozent der deutschen Jugendlichen, die die Schule ohne Abschluss verlassen? Haben Bildungsverlierer noch etwas zu gewinnen, oder haben sie tatsächlich, wie Tayfun im Film, nichts mehr zu verlieren?

Jeder Dritte ist arbeitslos

Allein ein Blick auf die Statistiken des Landesarbeitsamtes Berlin-Brandenburg genügte, um die Dimension dieses Themas deutlich zu machen. Beträgt die Arbeitslosenquote im Berliner Durchschnitt derzeit 16,5 Prozent, so sind es bei den Ausländern 35,1 Prozent. Ihr Anteil an den Arbeitslosen des Landes liegt mit 17,1 Prozent 3 Prozent über ihrem Anteil an der Bevölkerung. Arbeitslosigkeit bei Ausländern ist in der Regel Jugendarbeitslosigkeit. Von den 47.000 arbeitslosen Nichtdeutschen sind 32.000 unter 25 Jahre. Auch die Ursachen einer solchen Schieflage sind aus den Statistiken abzulesen. 67 Prozent der arbeitslosen Nichtdeutschen unter 25 haben keine Berufsausbildung. Von ihnen wiederum haben 13 Prozent überhaupt keinen Abschluss.

Die Schüler ohne Abschluss sind die Arbeitslosen von morgen. Und ihre Chancen werden immer geringer, je höher die Anforderungen in der flexiblen Informationsgesellschaft werden. So entsteht, was man in der Soziologie städtische Unterschicht nennt: vom ersten Arbeitsmarkt abgekoppelt, vom gesellschaftlichen Reichtum ausgeschlossen, auf sich selbst und die jeweiligen ethnischen, religiösen und Geschlechteridentitäten zurückgeworfen.

Deutsch reicht nicht

Als der Berliner Schulsenator Klaus Böger (SPD) vor einem Jahr beim ersten Forum Bildung in der Hauptstadt auftrat, wollte er von alldem nichts hören. Die „Bildungsoffensive“, die er ankündigte, war eine reine „Sprachoffensive“. Mit Deutschkursen für türkische Mütter und ein paar mehr Stellen für die Förderklassen will Böger zuerst den Spracherwerb der Migrantenjugendlichen verbessern. Damit sollen dann auch die Ausbildungschancen der Jugendlichen ansteigen.

Was aber, wenn die Kinder nicht richtig Deutsch lernen, weil sie nicht einmal richtig Türkisch können? Was, wenn sie das Pech haben, dass eines der schulischen Modellprojekte aus der Zeit der Reformpädagogik plötzlich zu Ende geht, wegen fehlender Mittel oder mangelndem Interesse der deutschen Eltern? Was, wenn die Eltern vor den schulischen Misserfolgen ihrer Kinder kapitulieren. Was, wenn sie diese Misserfolge nicht einmal als Problem begreifen, weil sie selbst aus so genannten bildungsfernen Schichten kommen? Was, wenn die Lehrer nicht mehr motiviert sind und auch nicht richtig ausgebildet, um die neue Klasse der „Bildungsverlierer“ vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren wie Tayfun?

Es ist die zunehmende Diskrepanz zwischen solchen Fragen und den tatsächlichen Antworten der Politik, die Zweifel aufkommen lässt an der Lösungskompetenz der Berliner Verwaltung. Auf dem selben Forum Bildung, auf dem Schulsenator Klaus Böger den Bildungsnotstand in seiner Stadt auf den Spracherwerb reduzierte, forderte Bundespräsident Johannes Rau „eine gezielte Förderung“ für die Migrantenkinder. Nur so könne man verhindern, „dass ein Bildungsproletariat entsteht, das den sozialen Anschluss verliert“. Es sei eine ganz wichtige Aufgabe der Bildungspolitik, sagte der Bundespräsident weiter, sozialer Ausgrenzung entgegenzuwirken. „Dabei geht es nicht nur um den Lebensweg und das Lebensglück des Einzelnen, es geht auch um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.“

Um den ist es vielerorts in Berlin allerdings nicht mehr allzu gut bestellt. „Je größer die Konkurrenz, desto geringer sind die Chancen von Schülern mit schlechtem oder keinem Abschluss“, sagt der Leiter der Ausländerberatung beim DGB Berlin-Brandenburg, Safter Cinar. Hinzu komme der Strukturwandel der Berliner Wirtschaft. Die Schere zwischen der Qualifikation der Bewerber und den Anforderungen des Arbeitsmarktes wird immer größer. „Bei einem Aubildungsplatz in einem Dienstleistungsbetrieb spielen sprachliche Gewandheit und Kenntisse der Alltagskultur einfach eine größere Rolle als in einem Industrieunternehmen“, sagt Cinar.

Der zunehmende Misserfolg nichtdeutscher Jugendlicher auf dem Leerstellenmarkt ist auch ein Grund für die zunehmende gesellschaftliche Isolation und Aggression, hat Cinar beobachtet. „Häufig beschimpfen die Jugendlichen die Arbeitgeber als Rassisten. Doch wenn man nachfragt, stellt man fest, dass weniger Diskriminierung als vielmehr mangelnde Qualifikation eine Rolle spielten.“

Es ist Ausgrenzung

Doch genau dieser Unterschied spielt für die Abgewiesenen kaum mehr eine Rolle. Sie fühlen sich als Ausgegrenzte, und sie sind es auch. Erst vor kurzem hat sich der Berliner Architekt Hans Kollhoff, dessen Hochhauslandschaft am Alexanderplatz noch aussteht, auch gesellschaftspolitisch zu Wort gemeldet. „Es geht auch gegen die Armutsästhetik im Interesse der Political Correctness – denn wir leben hier in Europa in einer reichen Gesellschaft“, so Kollhoff in einem Plädoyer für eine neue soziale „Verfeinerung“. „Es gibt keinen anderen Weg, aus der Hässlichkeit der sichtbaren Welt zur Schönheit zu finden.“

„Die Kluft zwischen denen, die es geschafft haben, und denen, die es nicht schaffen, wird immer größer“, weiß Safter Cinar. Während die einen ihr Bedürfnis nach Schönheit mehr und mehr als Bollwerk gegen die Zumutungen einer „Armutsästhetik“ ausbauen, warnten Experten im letzten Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung von 1998 vor einem neuen „Proletarisierungsprozess“, der langfristig den „inneren Frieden in Deutschland in Gefahr“ bringen könnte. Safter Cinar hält sogar in Berlin nicht einmal mehr Verhältnisse wie in den französischen Vorstädten für ausgeschlossen. „Die Jugendlichen müssen mit ihrer Energie etwas anfangen. Die können nicht nur rumsitzen oder in die Selbständigkeit gehen. Die gehen mit der gesellschaftlichen Diskriminierung viel aggressiver um als ihre Eltern.“

Schon vor drei Jahren hatten Kreuzberger Sozialarbeiter vor der zunehmenden Aggression in einigen Jugendprojekten berichtet. Zwei Einrichtungen mussten sogar geschlossen werden, weil die Beschäftigten die Sicherheit der Besucher nicht mehr garantieren konnten. „Gerade diese jungen Menschen, die gesellschaftlich ausgegrenzt werden“, hieß es in einer Studie der damaligen Kreuzberger Jugendstadträtin Hannelore May, „neigen zu erhöhter Aggression gegen Sachen und Menschen oder entsprechender Autoaggression.“ Mays Fazit: „Eine Investition in die Ausbildung von Schulabgängern aus sozial schwachen Familien ist dringend geboten.“

Ein frommer Wunsch. „Zu einem wirklichen Neuanfang in der Bildungspolitik gehört auch, dass man endlich begreifen muss, dass wir ein Einwanderungsland sind“, schimpft Safter Cinar. Doch ist dieser Neuanfang überhaupt gewollt? Die Essener Pädagogikprofessorin Ursula Boos-Nüning weiß, das in Deutschland mittlerweile 30 Prozent aller Schulkinder einen „Migrationshintergrund“ hätten.

Die Schulpolitik versagt

Doch sowohl der Schulalltag als auch die Ausbildung von Lehrern und Erziehern geht immer noch vom herkömmlichen Bild des deutschen Schulwesens aus, demzufolge der Normalschüler deutsch ist und spricht, christlich oder atheistisch erzogen ist und aus einer intakten Familie kommt, in der vor allem die Mütter die treibende Kraft für den schulischen Erfolg ihrer Kinder sind. Die Ignorierung dieses Sachverhalts und die anhaltend hohe Zahl der Bildungsverlierer ist etwa für den Leiter des Forschungsinstituts Empirica und SPD-Vordenker Ulrich Pfeifer „der größte politische Skandal in Berlin“.

Doch es ist nicht nur eine „deutsche Leitkultur“, die sich in den Kanon von Bildung und Lehrerausbildung eingeschrieben hat, es ist auch eine mittelschichtsorientierte. Dass mangelnde Schulbildung nicht nur ein Problem der Ausländerkinder ist, betont die stellvertretende GEW-Vorsitzende Sanem Kleff immer wieder. „Wir haben es in Berlin vielmehr mit einem Unterschichtenproblem zu tun“, sagt Kleff, „und dazu können türkische Kinder genauso gehören wie deutsche.“ Zwei Stigmata hat Kleff ausgemacht, die für die Schüler von Nachteil sein können. Dazu gehöre das Stigma des Migranten wie auch das Stigma sozialer Benachteiligung. „Einem dieser Nachteile kann man noch begegnen“, so Kleff, „schwierig wird es aber, wenn zwei zusammenfallen.“

Eine Reform steht aus

Kleff weiß, dass zu einer Bildungsreform, die diesen Namen verdienen würde, auch eine neue Diskussion um Ganztagsschulen gehört, eine Einstellungsoffensive für türkischsprachige Lehrer, mehr Geld für kleinere Klassen in den Problemquartieren, individuell zugeschnittene Integrationsprogramme wie in den Niederlanden. Und sie weiß auch, dass der Bildungsnotstand der Gegenwart immer nur das Ergebnis der politischen Versäumnisse der Vergangenheit ist. „Selbst wenn wir jetzt das Ruder rumreißen würden“, sagt Sanem Kleff, „würde sich allenfalls in ein paar Jahren etwas zu verbessern beginnen.“

In Martin Eiglers Film „Freunde“ ist es bereits angedeutet: Nicht nur bei Hans Kollhoff und seinesgleichen gibt es den Drang zu einer Aufteilung der Gesellschaft in die vormoderne Logik von Freund und Feind, sondern auch ganz unten. Womöglich ist das ja das Leben, das die Schule noch immer lehrt.