Links, wo der Stinkstiefel ist

In Berlin stellte Oskar Lafontaine Gregor Gysis neues Buch vor. Die beiden Aussteiger der Berliner Republik plauderten über Gerhard Schröder (böse), die Weltfinanzen (böse), soziale Gerechtigkeit (gut) und die PDS (gut und böse). Je länger man ihnen zuhört, desto müder wird man. Unendlich müde

von JENS KÖNIG

Gysi! Mit Lafontaine!! Zusammen!!! Auf einem Podium!!!!

Oh ja, das ist ganz nach dem Geschmack der Hauptstadt-Journalisten, die sich zwar in einem permanenten Erregungszustand befinden, aber doch nichts so sehr tun, wie sich selbst zu langweilen. Da sind sie für jede Abwechslung, die neue Spannung verspricht, dankbar. Und wann hat man heutzutage schon mal zwei aufrechte deutsche Linke nebeneinander sitzen? Die letzte Begegnung dieser Art scheint Jahre zurückzuliegen. Oder Jahrzehnte? War es 1990, als Willy Brandt nach dem Attentat auf Oskar Lafontaine an dessen Krankenbett saß? Oder noch früher? Willy Brandt beim Glas Rotwein mit Herbert Wehner? (Wehner hatte natürlich, wie immer, selbst gemachte Stullen seiner Frau Greta dabei.) Oder Wilhelm Pieck mit Otto Grotewohl? Liebknecht mit Lassalle?

Kinder, wie die Zeit vergeht. Und heute? Schröder. Allein.

Aber jetzt lebt sie wieder auf, die Einheit der Arbeiterklasse. Oskar Lafontaine stellt Gregor Gysis neues Buch vor. „Ein Blick zurück, ein Schritt nach vorn“, heißt es. Das klingt nicht gerade verheißungsvoll, aber die Kenner wissen wenigstens die kleine Anspielung auf Lenin zu schätzen. Und Memoiren, wie angekündigt, sind es auch nicht. Gysi hat sich so von der Seele geschrieben, was ihn in den letzten zehn Jahren bewegt hat: die deutsche Einheit, der Osten, Helmut Kohl, soziale Gerechtigkeit, der Kosovo-Krieg, die PDS, sein Abschied von der Politik.

Macht nichts. Der Saal im Bundespresseamt ist proppenvoll. Die Kameras sind aufgebaut. Die Fotografen drängeln. Die Erwartungen sind hoch. Zwei intelligente Politiker treffen sich hier, das hat man ja auch nicht alle Tage. Zwei scharfzüngige Redner. Zwei ehemalige Parteivorsitzende. Zwei Aussteiger, die die Schnauze voll hatten von langen Vorstandssitzungen und langweiligen Genossen. Zwei Hippies der Berliner Republik gewissermaßen. Vielleicht führt die lockere Atmosphäre ja dazu, dass sich PDS und SPD nach der Veranstaltung vereinigen? Oder wird nachher bei einer Tasse Kaffee Gysi zum neuen Regierenden Bürgermeister von Berlin gemacht?

Das Erste, was auffällt: Die beiden sehen ausgeruht aus. Gysi ist sogar richtig braun gebrannt. Er hat gerade zwei Wochen Kuba-Urlaub (links!) hinter sich. Ohne den Drang, ständig telefonieren und faxen zu müssen, wie er später selber sagt. Der Abschied von der Politik kann so erholsam sein. Lafontaine sieht die vielen Kameras und sagt als Erstes, ihm sei, als käme er in ein Stück Heimat zurück. Diesen kleinen Anflug von Nostalgie wischt er mit der Bemerkung beiseite, dass er heute ja freier sprechen könne als früher. Daraufhin enthüllt er umgehend, dass 90 Prozent aller heutigen Bundestagsabgeordneten sich in der DDR an das System angepasst hätten. (99 Prozent, ruft ein alter Kampfgenosse aus dem Publikum.)

Der frühere SPD-Chef erzählt nicht ohne Stolz, dass Gysi während einer Bergarbeiterdemo in Bonn zu ihm gesagt hätte: „Sie sind ja tatsächlich ein Linker.“ Heute gibt Lafontaine das Lob zu zurück: Gysi, so sagt er, gehöre zu der „im Zeitalter des Neoliberalismus rarer gewordenen Sorte der Linken in Deutschland“, der sich auch nicht scheue, schlichte Wahrheiten aufzuschreiben wie die, dass es unmoralisch sei, wenn das eine Kind arm und das andere reich geboren werde.

Womit wir beim Thema sind. Lafontaine redet über das, worüber er immer redet: Die Steuerreform ist ungerecht. Die Rentenreform auch. Die Sozialpolitik auch. Schröder auch. Die Grünen auch. Der Kosovo-Krieg auch. Das Weltfinanzsystem auch. Die Linke ist weltweit gefordert, sagt er, und in Deutschland braucht es längerfristig eine große linke Volkspartei, die ihre Politik um den Epochenbegriff der sozialen Gerechtigkeit gruppiert.

Das ist der Rhythmus der Old School. Je länger man ihn mitgeht, desto mehr überfällt einen Müdigkeit. Unendliche Müdigkeit. Liegt es an der Monotonie des Vortrags? An der ewigen Wiederholung? An der Aussichtslosigkeit des Unterfangens?

Das Erstaunlichste ist, dass der schlagfertige Gysi dabei nicht einschläft. Ganz im Gegenteil. Er erwacht. Er ist ganz bei Lafontaine. Er unterschreibt das alles. Nur einmal widerspricht Gysi freundlich. An einer Vereinigung von PDS und SPD fände er nur Gefallen, wenn es sich um die Sozialdemokratie unter August Bebel handelte. Er könne doch nicht alle Linken dieser Welt leiden, nur weil sie für soziale Gerechtigkeit seien. „Da sind auch eine Menge Stinkstiefel dabei“, sagt Gysi und guckt Lafontaine an. Der feixt.

Da war sie plötzlich wieder, die alte Arbeitereinheitsfront.