Gefährlich dick

■ Kinderärzte schlagen Alarm: Jeder fünfte Jugendliche ist zu dick. Die meisten bleiben es auch. Noch immer gilt als gemütlich, was krank macht

Dicksein tut nicht weh. Jedenfalls nicht so direkt. Deshalb gehen die meisten Kinder und Jugendliche nicht freiwillig zum Arzt, nur weil sie für ihr Alter viel zu viele Kilos auf die Waage bringen. „Der Leidensdruck ist nicht hoch genug“, sagt Klaus Gritz, Vorsitzender des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte in Hamburg. Außerdem kann man nur selber etwas ändern. Wenn dann auch die Eltern Fernsehen gemütlich und Sport hektisch finden, Gläschen, Täfelchen, Chipstütchen zum Fernsehen dazu gehören, wenn Karotten so richtig doch erst mit Fleisch und Soße schmecken oder sie meinen, der Tag könnte nur gelingen, wenn der Teller leer ist, dann ist die Chance noch geringer, dass mal ein Arzt die Dramatik des Übergewichts zu Gesicht bekommt. Deshalb schlagen die Ärzte jetzt öffentlichen Alarm: In Deutschland ist jeder fünfte Jugendliche übergewichtig, 85 Prozent von ihnen bleiben es auch als Erwachsene. „Da rollt eine Lawine auf unser Gesundheitssystem zu“, fürchtet Professor Wieland Kiess, Chefarzt der Universitätsklinik für Kinder und JUgendliche bei einer Verbandstagung in Hamburg. Denn jedes Kilo erhöhe das Risiko für einen späteren Herzinfarkt, Schlaganfall, für Bluthochdruck und Diabetes.

Die Zahl der übergewichtigen Jugendlichen habe sich seit den siebziger Jahren vervierfacht. Die Ärzte reden dabei nicht von kosmetischem, sondern von gesundheitsbedrohendem Übergewicht, der Adipositas. Die Ursachen dafür sind vielfältig, und liegen fast nie an einem genetischen geht-nicht-anders. Die Jugendlichen, denen beispielsweise das Hormon Leptin fehlt, das das Gefühl des Sattseins vermittelt, seien absolute Raritäten. Vielmehr liegt es an zu viel falschem Essen und zu wenig Bewegung. Nach einer Studie der Universität Frankfurt habe sich die Dauer der täglichen Bewegung seit 1988 halbiert. Ein Teufelskreis: „Kinder mit Übergewicht sehen täglich fast vier Stunden Fernsehen, normalgewichtige Kinder 1,6 Stunden“, sagte Kiess. Dicke Kinder werden gehänselt, ziehen sich zurück, trauen sich nicht mehr in den Sportverein oder ins Schwimmbad, bleiben dafür immer häufiger vor Fernseh- oder Computerbildschirm hocken – und werden noch dicker. Die Mahlzeiten haben darüber hinaus in vielen Familien keine soziale Funktionen mehr, sondern gegessen wird zwischendurch im Stehen und was gerade so da ist.

Zahlen der Hamburger Gesundheitsbehörde zeigen: Mädchen sind häufiger zu dick als Jungen, Haupt- und RealschülerInnen häufiger als Gymnasiasten. Und Übergewicht hat etwas mit der sozialen Situation zu tun.

Gegen die zunehmende Jugend kämpft seit 1999 das ambulante Langzeitprogramm „Moby Dick“. In Kooperation mit niedergelassenen Ärzten, Schulen und Sportvereinen betreuen ErnährungswissenschaftlerInnen, SportpädagogInnen, FamilientherapeutInnen und PsychologInnen etwa 150 Kinder und Jugendliche. Einmal pro Woche verbringen sie einen Nachmittag miteinander, machen gemeinsam Sport und bereiten sich selber ein gesundes Essen, das sie auch gemeinsam genießen. Alle vier Wochen treffen sich die Eltern und lernen, wie sie ihren Kindern dabei behilflich sein können, ihre Gewohnheiten zu ändern. Darüber hinaus gibt es gemeinsame Aktionen, beispielsweise in den Ferin. Von den 32 Kindern und Jugendlichen zwischen acht und 16 Jahren, die der erste Moby Dick-Durchgang waren, haben 80 Prozent ihre Ziele erreicht. Sie haben entweder abgenommen oder haben nicht zugenommen, obwohl sie gewachsen sind. Wegen der großen Nachfrage aus anderen Bundesländern werde zur Zeit ein Moby-Dick-Netzwerk aufgebaut.

Die Teilnahme an dem Programm kostet monatlich 200 Mark. AOK und einige andere Krankenkassen geben bei regelmäßiger Teilnahme zwar einen Zuschuss, aber das ist Verhandlungssache.

Die Kinder- und Jugendärzte appelieren an die Kassen, die jährliche Vorsorgeuntersuchung über das fünfte Lebensjahr hinaus auszudehnen. Zwischen 12 und 15 zahlen die Kassen eine Untersuchung, dazwischen aber bekommen die Ärzte die Jugendlichen nur bei akuten Krankheiten zu sehen. „Und wenn die Erwachsenen mit 35 dann wieder zur jährlichen Untersuchung sehen, ist die Raucher-, Säufer-, Fresserkarriere längst gelaufen“, sagt Wolfgang Wahlen, Kinderarzt im Saarland.

Sandra Wilsdorf

Moby Dick 040-32527421