DEUTSCHLANDS POLITISCHE KLASSE KÄMPFT UM IHRE EHRE
: Benimmregeln statt Inhalte

Die politische Klasse dreht durch. Entschuldigung. War nicht so gemeint. Gemeint war vielmehr: In ihrem Bestreben, den Nutzen des deutschen Volkes zu mehren, erwecken viele Volksvertreter den Eindruck, nicht mehr alle Tassen im Schrank zu haben. Wieder falsch. Guter Anfang, aber der Schluss geht so nicht. Neuer Versuch: Die Aufregung darüber, dass Umweltminister Jürgen Trittin den CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer in die Nähe von Skinheads gerückt hat, wirft ein bezeichnendes Licht auf die politische Kultur. Ja, so kann das stehen bleiben. Das ist die Sprache, die von den Akteuren geschätzt wird. Schade nur, dass immer weniger andere Leute derartige Sätze hören mögen.

Die Bemerkung von Jürgen Trittin war weder sachlich noch fein. Ebenso wenig wie die einst von Franz Josef Strauß ausgesprochene Empfehlung, „das Volk“ möge dem SPD-Vorsitzenden Willy Brandt „einmal gehörig aufs Maul hauen“. Oder die Art und Weise, in der Herbert Wehner seine politischen Gegner als „Ehrabschneider“, und als „nihilistischen Pöbelhaufen“ charakterisierte. Früher nahm die Öffentlichkeit derlei Verbalinjurien überwiegend amüsiert oder gleichgültig zur Kenntnis. Die Angegriffenen und ihre Freunde regten sich pflichtgemäß darüber auf, und wenn die Beleidigung im Parlament geäußert worden war, setzte es dafür einen Ordnungsruf. Das war’s.

Der bisher letzte Ordnungsruf ist im Deutschen Bundestag im November letzten Jahres ausgesprochen worden. Seither sind viele Sitzungswochen ins Land gegangen, ohne dass Abgeordnete einander am Arbeitsplatz beschimpft hätten. Stattdessen geben sie beleidigende Interviews und Pressekonferenzen oder setzen sich mit der Frage auseinander, wo die Grenze des Anstands in der politischen Auseinandersetzung überschritten wurde und welche Form der Entschuldigung für welche Äußerung angemessen wäre. Unterdessen wächst die Distanz zwischen Wählern und Gewählten.

Ein wachsender Teil der Bevölkerung hält Politiker unabhängig von Parteipräferenzen für opportunistisch, machthungrig und sogar für kriminell. Umfragen besagen, dass das Ansehen der politischen Klasse niemals geringer war als heute. Würden sich die Abgeordneten regelmäßig an die Stammtische ihrer Wahlkreise setzen – sie kämen mit Beleidigungsklagen gar nicht mehr nach. Sie tun es nicht. Aber sie scheinen zu ahnen, was dort gesprochen wird. Anders lässt sich ihr Bedürfnis, die eigene Ehre zu definieren, kaum erklären.

Politiker hätten allen Grund, der Frage nachzugehen, warum ihr Ansehen so dramatisch gesunken ist. Stattdessen befassen sie sich mit der möglichst präzisen Abfassung neuer Benimmregeln für die eigene Zunft: ein typisches Verhalten für Gruppen geächteter Außenseiter, die den Kontakt zur gesellschaftlichen Realität verloren haben. Regierung und Opposition stehen einander darin übrigens in nichts nach. Der SPD war gestern anzumerken, wie schwer ihr die Verteidigung des grünen Umweltministers fiel. Sie zog sich auf die Tatsache zurück, dass Trittin sich entschuldigt hat. Den Vergleich mit dem unsäglichen Rentenplakat der CDU hat sie nicht zurückgewiesen.

Das wäre aber nötig gewesen. Das Problem des Rentenplakats bestand eben nicht darin, dass ein Politiker namens Gerhard Schröder auf einem Fahndungsplakat dargestellt wurde. Sondern darin, dass es sich dabei um den gewählten Regierungschef eines demokratischen Landes handelt. Die Inhaber mancher – sehr weniger – Ämter sollten vor manchen – sehr wenigen – Angriffen tatsächlich im öffentlichen Interesse geschützt werden. Die Tatsache, dass nicht einmal mehr die Partei des Bundeskanzlers diese Grenze zu definieren vermag, legt den Verdacht nahe, dass auch die Abgeordneten selbst den tragenden Säulen des Systems keine größere Achtung entgegenbringen als weite Teile der Öffentlichkeit. Das ist bedrohlich.

P. S.: Natürlich hofft die Union vor allem darauf, die Stimmung vor den nächsten Landtagswahlen doch noch zu ihren Gunsten zu wenden. Das ist verständlich, wenn auch wenig aussichtsreich. Wirklich erbärmlich aber ist es, wenn der designierte FDP-Parteivorsitzende Guido Westerwelle – erkennbar wider besseres Wissen – auf diesen populistischen Zug aufspringt, weil der Modernisierer glaubt, auch konservative Wähler an seine Partei binden zu müssen. Es gibt Gründe, weshalb Politiker einen so großen Teil ihres Ansehens eingebüßt haben. BETTINA GAUS