„Die Opfer fragt ja niemand“

Da sich die deutsche Entschädigung ehemaliger NS-Zwangsarbeiter immer weiter verzögert, hat Polens Regierung im Alleingang mit Abschlagszahlungen begonnen. Viele Betroffenen werden wohl nichts anderes mehr bekommen

aus Warschau GABRIELE LESSER

„Wir waren dagegen“, empört sich Arnold Mostowicz, der Vorsitzende des Verbandes der jüdischen Veteranen und NS-Opfer. „Aber die Opfer fragt ja niemand in Polen.“ Seit Montag zahlt die Stiftung für deutsch-polnische Versöhnung in Warschau 1.400 Zloty (rund 700 Mark) an die über 80-Jährigen unter den ehemaligen Zwangsarbeitern aus. Dieses Geld ist eine Anzahlung auf die sich immer weiter verzögernde Auszahlung von Entschädigung aus Deutschland und Österreich.

Da jeden Monat mehrere tausend ehemalige NS-Opfer sterben, wollte die polnische Regierung wenigstens den ältesten unter den noch Lebenden eine kleine Summe zukommen lassen. Jeden Tag will die Stiftung für deutsch-polnische Aussöhnung nun 5.000 Schecks ausstellen. Insgesamt seien 70.000 bereits bei der Stiftung registrierte Opfer berechtigt, diese Anzahlung der späteren Entschädigungssumme zu erhalten. Je nach der Schwere der Arbeit und der Arbeitsbedingungen werden Summen in Höhe von 15.000, 10.000 und 5.000 Mark ausgezahlt.

Von den 10 Milliarden Mark, die Bundesregierung und Industrie in die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ einzahlen werden, erhält Polen 1,8 Milliarden Mark. Diese Summe wird die Partnerorganisation in Polen, die Stiftung für deutsch-polnische Aussöhnung, auszahlen.

Im September 1989, 50 Jahre nach Kriegsausbruch, hatte für die ehemaligen Zwangsarbeiter das Warten auf die Entschädigungszahlungen aus Deutschland und Österreich begonnen. Als Ende 2000 noch immer keine Lösung in Sicht war, regte die polnische Regierung die Abschlagszahlungen an – und regte damit zumindest einige der Betroffenen auf.

„Ich will weder ein Almosen noch eine Sozialhilfe oder eine andere Kleckersumme, die in überhaupt keinem Verhältnis zur Arbeit im Ghetto oder KZ steht“, sagt der 87-jährige Mostowicz, schließt die Augen und legt beide Hände auf die Stirn. Schließlich sagt er langsam und müde: „Diesmal geht es um Schuld und Sühne. Wenn wir wieder nur ein Almosen bekommen – und wenn es auch eine Anzahlung auf eine größere Summe ist –, kann sich das Gefühl nicht einstellen, dass unser Leiden endlich anerkannt wurde.“

Das Gießkannenprinzip – alle über 80-Jährigen erhalten dieselbe Abschlagszahlung – sorgt für zusätzlichen Unmut. „Die Zwangsarbeiter auf dem Land“, so Mostowicz, „sind gesund und meist wohl genährt zurückgekommen. Von den KZ-Häftlingen aber – Polen und Juden – leben ohnehin nur noch wenige. Und jetzt bekommen wir dieselben 1.400 Zloty Abschlagszahlung. Wir sterben, und die früheren Zwangsarbeiter auf dem Land bekommen den ganzen Rest der Entschädigungssumme.“

Zahlreiche der über 80-Jährigen schicken nach kurzer Bedenkzeit die Schecks wieder zurück an die Stiftung. In einigen Monaten, wenn die tatsächlichen Entschädigungszahlungen beginnen, wird an der Warschauer Stiftung das Chaos ausbrechen. Nicht nur die Auszahlungen werden in die Länge gezogen, auch die Verwaltungskosten der Stiftung werden erheblich steigen müssen, um die nun komplizierte Buchhaltung der Abschlags- und späteren Ratenzahlungen immer wieder zu prüfen und die Gelder korrekt auszuzahlen.

Da Ministerpräsident Jerzy Buzek nicht zugeben wollte, dass er an den Interessen der Opfer vorbei vor allem sein eigenes Image als Wohltäter der früheren Zwangsarbeiter im Auge hatte, sollte der Vorsitzende der Stiftung, der 28-jährige Bartosz Jalowicki, für das Debakel der Abschlagszahlungen verantwortlich gemacht und abgesetzt werden. Dies konnten die Opferverbände gerade noch verhindern. Doch Mostowicz ist pessimistisch: „Ich bin alt und müde, ich kann nicht mehr kämpfen. Den Jungen aber, der sich auf unsere Seite geschlagen hat, wollen sie uns wegnehmen.“