Jüdische Gemeinde: Die Russen kommen

Bei Gemeindewahlen sind russischsprachige Zuwanderer erfolgreich. Nachama muss um Wiederwahl kämpfen

Morgens um vier war es geschafft, die Stimmen von fast 10.000 Wahlberechtigten waren ausgezählt: Die Jüdische Gemeinde hat gewählt – das Ergebnis kommt einem Erdrutschsieg gleich. Nach bald einem Jahrzehnt fast explosionsartiger Steigerung der Mitgliederzahl durch die Zuwanderung aus den Ländern der früheren Sowjetunion spiegelt sich diese Entwicklung erstmals deutlich im Gemeindeparlament: Die Russen kommen.

Denn nunmehr gehört fast die Hälfte der 21 Repräsentanten dieser Zuwanderergruppe an. Ihr Anteil an den Gemeindevertretern hat sich von drei auf neun Parlamentarier verdreifacht. Das ist logisch, denn mittlerweile sind fast drei Viertel der Wähler russischsprachiger Herkunft. Julius Schoeps, Leiter des Moses Mendelssohn Zentrums für Europäisch-Jüdische Studien an der Universität Potsdam, bringt es auf den Punkt: Nach den nächsten Wahlen in vier Jahren werde man eine „russische Gemeinde“ haben.

Die zweite bemerkenswerte Entwicklung bei dieser Wahl: Der bisherige Gemeindevorsitzende Andreas Nachama wird es nicht ganz so einfach haben, wiedergewählt zu werden. Seine Gruppierung „Jüdische Einheit“ hat sieben Repräsentanten ins Gemeindeparlament bekommen – sein Gegenspieler Moische Waks mit seiner Gruppe „Jüdisches Forum“ dagegen acht. Zwar hat Nachama die meisten Stimmen von allen Kandidaten erhalten (1.602), während Waks mit 992 Voten eher abgestraft wurde. Der Gemeindechef aber braucht noch Stimmen, um den Vorstand nach seinen Vorstellungen besetzen zu können, der seinerseits am 2. Mai den Vorsitzenden der Gemeinde wählt.

Der Grund: Je nach Zählweise sind sechs Repräsentanten als unabhängige Kandidaten oder aus kleineren Gruppierungen ins Gemeindeparlament gewählt worden. Sie zu gewinnen wird schwer, zumal zu ihnen auch Rabbiner Walter Rothschild gehört. Nachama und Rothschild sind sich seit der Absetzung des Rabbiners von seinem Posten im vergangenen Jahr in herzlicher Abneigung verbunden. Rothschild kündigte gestern schon an, er sehe kaum eine Möglichkeit der Zusammenarbeit mit Nachama.

Der Gemeindechef erklärte gestern folgerichtig, er werde – wie schon bei seiner letzten Wahl vor vier Jahren – versuchen, möglichst viele Strömungen in der Repräsentanz durch eine Integration in die Vorstandsarbeit einzuspannen, da auch der Vorstand ein Spiegelbild der Vielfalt der Gemeinde sein solle. Nach wie vor aber sind, je nach Definition, nur ein, zwei jüngere Gemeindemitglieder in die Repräsentanz gewählt worden. Auch der Frauenanteil ist gering: Nur vier Frauen sind im neuen Gemeindeparlament.

Ein interessantes neues Gesicht wird unter den Repräsentanten auszumachen sein: Anetta Kahane, Geschäftsführerin der Amadeu Antonio Stiftung, ist auf Platz 21 gelandet. Nicht gewählt wurde dagegen eine andere schillernde Figur: der Publizist und Autor Rafael Seligman. Insgesamt aber hat die Vielfalt im Gemeindeparlament zugenommen – so wie es dem jüdischen Leben der Stadt entspricht. PHILIPP GESSLER