Nur noch 39 Sekunden

Plötzlich ist in greller Beleuchtung die Geschichte da – Thomas Lehrs gewagte Novelle „Frühling“

von WERNER JUNG

Man sagt, dass in den letzten Sekunden vor dem Tod noch einmal wichtige Stationen und Bilder des Lebens sich wie ein Film vor dem inneren Auge abspielen. Reanimierte, komatös gewesene Patienten berichten, dass sie sich in einem Zustand der Ruhe und zugleich mit hoher Geschwindigkeit durch einen Gang haben bewegen sehen, an dessen Ende ein strahlend-glänzendes Licht aufgeschienen sei.

Thomas Lehr wagt sich in seinem neuen Text, einer Novelle, die er nun seinem Roman „Nabokovs Katze“ (1999) folgen lässt, an diese Grenze. Er versucht, jene Sprache des „Draußen“ (im Sinne Foucaults, der mit diesem Terminus die Bewegung der modernen Literatur seit de Sade auf den Begriff zu bringen geglaubt hat) zu artikulieren, eine Sprache, die über die Grenze hinausgegangen ist, um gleichsam vom Jenseits aus wieder Blicke aufs zurückliegende, abgelaufene Leben zu werfen.

Lehrs Erzähler stellt sich bewusst in jene „Tradition der Moderne“ (Heißenbüttel), die in der Prosa den realistischen Raum zugunsten eines phantastisch-phantasmagorischen Zeitromans aufgegeben hat; die erzählte Zeit wird ungeheuer zusammengepresst: Was bei Joyce im inneren Monolog der Molly Bloom noch eine ganze Nacht (und darin ein ganzes Leben) umfasste und auch in Hildesheimers „Tynset“ noch eine schlaflose Nacht dauerte, das lässt Thomas Lehr auf die letzten 39 Sekunden zusammenschrumpfen, in denen ein durch einen Schuss tödlich verletzter Mann, ein 50-jähriger Mediziner, sein Leben aushaucht. Lehr lässt eine wahre deutsche Albtraumgeschichte vor dem Leser entstehen – mal im Wort- und Bilderstakkato, dann in assoziativen Sprüngen und Schüben, wobei die übliche Syntax aufgehoben, die Zeichensetzung eigenwillig verschoben und Groß- und Kleinschreibung scheinbar willkürlich vertauscht werden. Vor allem gegen Ende des sich immer mehr beschleunigenden Textes gibt es auch durchgehende narrative Sequenzen. Zunächst bleibt man noch im Dunkel stehen und in Ahnungen befangen, dass man etwas Schreckliches vor sich und der Erzähler am Ende sein Leben hinter sich hat. Allmählich aber wird der Leser mit dem tödlichen Ende und dem delirierenden Fiebertraum in eine Geschichte verstrickt, die – obwohl nur in kurzen Strichen, Bemerkungen, Hinweisen angedeutet – blitzartig in voller Schärfe da ist.

Plötzlich ist alles offensichtlich, entsteht in greller Beleuchtung eine fürchterliche Geschichte, ein stigmatisiertes und ruiniertes Leben: Kindheits- und Jugenderlebnisse, die Begebenheit mit einem fremden Mann, dem Exhibitionisten im elterlichen Garten, just zu dem Zeitpunkt, als die beiden Brüder, der damals elfjährige Erzähler und sein vierzehnjähriger, bewunderter größerer Bruder vom Angeln nach Hause kommen. Dann die merkwürdige Veränderung mit dem älteren Bruder, die Schweigsamkeit, das In-sich-Gekehrtsein in einem ohnehin durch Verschweigen geprägten elterlichen Heim. Der vermeintlich unerklärliche Selbstmord des Bruders drei Jahre später – ein grässlicher Tod auf den Bahngleisen. Blende: das Studium des Jüngeren, die berufliche Karriere, die Heirat mit einer zunächst geliebten Frau, dann das Gestrandetsein in der Midlifecrisis des Fünfzigjährigen, die Hure Gucia, der mit ihr geplante (kleistsche) Freitod, der tödliche Schuss und Schluss zwischen den Schenkeln der Geliebten, nachdem ihm – plötzlich, schlagartig – die Hintergründe um den Tod des Bruders und seines eigenen verpfuschten Lebens aufgegangen sind: Denn der Vater hatte als KZ-Arzt für Furore gesorgt und war von diesem Fremden im Garten aufgespürt worden.

Das ist in der Tat der Stoff einer Novelle, einer „unerhörten Begebenheit“ (Goethe), die Lehr seinen in allen modernen und postmodernen Wassern gewaschenen Erzähler berichten lässt. Und man weiß nicht, was man schließlich mehr bewundern soll an diesem Text: das sprachlich-stilistische Vermögen, mit dem Lehr Sekundenbruchteile einfängt, apokalyptisch-albtraumhafte Visionen und Bilder abrollen lässt. Oder die Stringenz, mit der das unheimliche wie unheilvolle Weiterwirken deutscher Geschichtslasten noch bis in unsere jüngsten Tage hinein inszeniert wird. Ein deutsches Trauma – ein deutsches Drama gespiegelt in einer deutschen Novelle!

Thomas Lehr: „Frühling“, Aufbau-Verlag, Berlin 2001, 142 Seiten, 32,90 DM