Ölbohrer auf Tauchgang

Die größte Ölplattform der Welt ist gestern vor der brasilianischen Küste überraschend gesunken. 1,5 Millionen Liter Öl könnten in den Atlantik fließen. Schwere Vorwürfe gegen Ölfirma Petrobras

SÃO PAULO taz ■ Gestern Vormittag (Ortszeit) ist die größte Erdölplattform der Welt im Campos-Becken 120 Kilometer vor der brasilianischen Küste gesunken. Am Morgen war der 31.400-Tonnen-Koloss, der eine schwere Schlagseite hatte, plötzlich weiter abgesackt. Daraufhin mussten die Arbeiter ihre Reparaturbemühungen unter schlechten Wetterbedingungen aufgeben. Die Bohrinsel liegt nun in einer Tiefe von 1.360 Metern auf dem Meeresgrund. Es wird befürchtet, dass nach dem Untergang 1,5 Millionen Liter Öl und Diesel in den Atlantik gelangen könnten.

Die Bohrinsel P-36, die rund 190 Kilometer nordöstlich von Rio de Janeiro im Südatlantik steht, war am vergangenen Donnerstag von drei Explosionen erschüttert worden. Dabei kamen zehn Ölarbeiter ums Leben. Das Unglück ist das jüngste Fiasko für die staatliche Betreiberfirma. Im letzten Jahr verursachte sie drei Umweltkatastrophen beträchtlichen Ausmaßes. Eine Öllache verseuchte die Bucht von Rio de Janeiro, eine weitere die Küste im Süden des Bundesstaates. Im Juli liefen oberhalb der Iguaçu-Wasserfälle an der Grenze zu Argentinien mehr als vier Millionen Liter Rohöl in zwei Flüsse.

Noch immer ist die Ursache der jüngsten Explosionen unklar. Fachleute vermuten, der Erdgasbrenner sei entgegen allen Sicherheitsvorschriften zu nahe an der Oberfläche der Plattform installiert gewesen. Daher sei die Temperatur an der Basis der Plattform mit bis zu 80 Grad ungewöhnlich hoch gewesen. Der Ingenieur Tiago Lopes, der sich am Donnerstag auf der Bohrinsel aufhielt, meinte, wahrscheinlich seien schnell große Mengen Gas ausgeströmt. Auch während der Testphase vor der Inbetriebnahme sei geschlampt worden, behaupteten Gewerkschafter und Ingenieure. Die 500 Millionen Dollar teure Bohrinsel war unter undurchsichtigen Umständen in Italien und Kanada fertig gestellt und erst im vergangenen Jahr in Betrieb genommen worden. Auch im Zusammenhang mit anderen Aufträgen der Petrobras gebe es Korruption, behauptete das Wochenmagazin Epoca.

Kritiker stellten auch einen Zusammenhang zwischen dem zunehmenden Einsatz von Subunternehmen und den Unfällen der vergangenen Jahre her. In den letzten zehn Jahren wurde die Petrobras-Belegschaft von 62.000 auf 34.000 Personen abgebaut. Seit 1998 kamen bei Arbeitsunfällen 81 Menschen um. 90 Prozent aller Unfälle hätten Arbeiter anderer Firmen betroffen, sagte Staatsanwalt Rodrigo Carelli. Selbst Petrobras-Vorsitzender Reichstul räumte ein, dass das Ausbildungsniveau der „Externen“ in der Regel niedriger ist. Von den 175 Arbeitern, die sich zum Zeitpunkt der Explosionen auf der Bohrinsel P-36 befanden, waren rund zwei Drittel Externe.

Eine Bohrinsel „ist ein schwimmendes Pulverfass“, sagt Gewerkschaftschef Fernando Carvalho. Dem Leben auf der Plattform kehrte er nach der Geburt seiner Tochter den Rücken: „Ich merkte, nach zwei Wochen erkannte sie mich nicht mehr.“ Die 14 Tage unter höchster Anspannung auf der Bohrinsel würden auch durch das doppelt so hohe Gehalt und die drei Wochen Ruhezeit zu Hause nicht wettgemacht. „An Land weiß man nicht mehr, was man tun soll, da Freunde und Verwandte arbeiten“, so Carvalho. Daher gebe es überdurchschnittlich viele Alkoholiker unter den „Erdölpendlern“. Besonders groß sei die Belastung für die Taucher.

Die zu starke Ausrichtung auf Profite sei „bei einem Erdölkonzern ein Fehler“, meint ein früherer Petrobras-Chef. Die Allgemeinheit leidet nicht nur unter den Umweltkatastrophen, sondern trägt auch den volkswirtschaftlichen Schaden: Nach vorsichtigen Schätzungen wird sich wegen der jetzt fälligen zusätzlichen Erdölimporte das brasilianische Außenhandelsdefizit in diesem Jahr um 600 Millionen Dollar erhöhen.

Zuletzt hatte P-36 mit täglich 80.000 Barrel Öl aus dem Ölfeld Roncador rund sechs Prozent der gesamten brasilianischen Erdölproduktion bestritten. Um die Verluste in Grenzen zu halten, soll nun möglichst schnell eine Bohrinsel, die noch in der Bucht von Rio liegt, zum Einsatz gebracht werden. Eigentlich war ihr Einsatz im benachbarten Ölfeld Marlim-Süd erst ab Juli geplant.

GERHARD DILGER