Kribbeliger Text

■ Stephan Valentin aus Paris liest heute aus seinem Debütroman „Der Ameisenfeind“

Wer hätte das nicht schon mal gemacht, als Kind, Ameisen mit einem Brennglas zu versengen. Oder etwas in der Art. Kinder sind grausam, sagt man. Und manchmal hat man sogar recht damit. Ein Kind allerdings zum Ameisenfeind werden zu lassen, ist jedoch ein erhöhter Anforderungsgrad. Der 1967 in Heidelberg geborene und 1999 mit dem Bettina von Arnim-Literaturpreis ausgezeichnete Autor Stephan Valentin hat sich in seinem Debüt „Der Ameisenfeind“ an einem Psychogramm versucht. Es ist der zehnjährige Jonas, aus dessen Perspektive Valentin durchgängig erzählt. In einem Mailaustausch zwischen Bremen und Valentins Wahlheimat Paris erfuhren wir, wie so ein Roman funktioniert.

taz: Die „Versuchsanordnung“, die Psyche eines „schwer Erziehbaren“, das mutet an wie etwas, das eher Journalisten und Psychologen interessiert. Wie bekommt man beim Schreiben die Distanz, diesen (fiktiven) Fall von Jonas nicht nur zu beschreiben? War es schwer, nicht das populistische Ableitungssystem zu bedienen (mit „Reizüberflutung“, Mediengewalt und „zerrütteten Familienverhältnissen“)?

Stefan Valentin: Die Psyche eines Kindes – schwererziehbar, psychisch gestört oder „normal“ – ist für mich gleichermaßen interessant. Auch in der Literatur werden Menschen gerade interessant, wenn sie von ihren normalen Verhaltensweisen abweichen. Bei einem Fall wie Jonas geht es nicht darum, beim Schreiben die Distanz zu bekommen, sondern man muss ganz und gar auf die Figur eingehen können und sich vollkommen in seine Psyche, in sein Ich versetzen. Jonas hat von der ersten Zeile an sein eigenes Leben geschrieben.

War es notwendig, den Roman als inneren Monolog zu erzählen, um nicht zu sehr nach Gründen zu suchen?

Ein innerer Monolog und auch die Ich-Form ermöglichen ein ganz besonderes Lesevergnügen: Der Leser ist in der Haut des Erzählers, erlebt alles hundertprozentig mit, wird sein Verbündeter, manchmal wider Willen. Gefühle gewinnen an Bedeutung, werden kraftvoller. Jonas hat genug Gründe für sein Verhalten, nur sind diese Gründe für viele Menschen keine Gründe mehr. Es gibt genug alleinstehende Mütter, die ihr Sexualleben ausleben, Väter die abwesend sind, Onkels, die kommen und gehen – für uns Erwachsene ist das nicht weiter schlimm. Aber für ein Kind, das nicht unsere Erfahrungen gelebt hat und noch nicht relativieren kann, sondern diese Situation zum ersten Mal erlebt, erleidet und dabei vor vollendete Tatsachen gestellt wird, sind diese Minitraumata verheerend.

Ist das Geschehen in die Provinz verlegt, weil die Figur des Jonas dort, anders als vielleicht in der städtischen Umgebung, gewissermaßen ganz auf sich zurückgeworfen ist?

Mutter und Sohn sind auf dem Land gelandet, weil dort die Großmutter lebt. Es ist das Hexenhaus. In der Provinz gelten andere Regeln. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, habe meine Kindheit sehr intensiv gelebt und erlebt. Das Land und seine Menschen dort können manchmal ungewöhnlich hart und falsch und heuchlerisch sein. Wie im wirklichen Leben entscheiden meine Figuren von selbst. Ich schaue zu.

Sie haben Schauspiel und Psychologie studiert. Wo überschneiden sich diese Bereiche mit Ihrer Tätigkeit als Erzähler? Beim „Ameisenfeind“ drängt sich die Verbindung zu Stichworten wie Psychologie und Kinderkrankenhaus in der Vita ja geradezu auf.

Diese Berufe haben meine Fähigkeit weiterentwickelt, mich in eine andere Person hineinzuversetzen. „Empathie“ ist die Basis. Sie überschneiden sich nicht mit der Tätigkeit des Erzählers, sondern sind eins. Was mich sicher beeinflusst, ist meine Fantasie, die sich wahrscheinlich von allem, was ich erlebe, ernährt. Eines weiß ich mit Sicherheit: Meine Erfahrung als Kinderpsychologe beweist mir jeden Tag, dass Jonas leider keine rein „fiktive“ Figur ist.

Fragen: Tim Schomacker

Stephan Valentin liest heute, 22. März, um 20 Uhr im Ambiente, Osterdeich 69a