Der Johannes Rau der Sozialisten

Einst geliebt, dann gehasst, jetzt allseits beliebt: Gregor Gysi zieht eine persönliche Bilanz. Zehn Jahre Politik und dieses ironiefreie Buch haben den Popstar in einen Bundespräsidenten der PDS verwandelt. Er steht über den Dingen. Er steht über den Parteien. Und: Er versöhnt, statt zu spalten

von JENS KÖNIG

Als Heiner Müller ein Problem mit seiner Neubauwohnung hatte, war Gregor Gysi seine letzte Hoffnung. Müller, der bekannte Dramatiker, wollte, dass Gysi, der bekannte Anwalt, ihm bei dem Streit mit seinem Vermieter hilft. Müller erklärte also eine halbe Stunde lang, worum es ging. Als er fertig war, sagte Gysi: „Müller, ich erinnere mich gerade an einen genialen Satz von Ihnen. In einem Ihrer Stücke heißt es: ‚Das Gras wächst nach hüben und drüben, nur der Mensch baut Grenzen.‘ “

Müller war verwirrt. Er fragte Gysi, was dieser ihm sagen wolle.

„Müller, Sie können das Schicksal der DDR in einem einzigen Satz beschreiben“, antwortete Gysi. „Aber Ihr lächerliches Mietproblem können Sie nicht mal in einer halbe Stunde erklären.“

„Gysi“, erwiderte Müller, „glauben Sie, ich würde schreiben, wenn ich reden könnte?“

Gregor Gysi hat für seinen persönlichen Rückblick auf zehn Jahre Politik im vereinigten Deutschland 381 Seiten gebraucht. Weder sind seine Probleme lächerlich noch gibt es in dem Buch irgendetwas, das nicht zu verstehen wäre. Trotzdem muss man, frei nach Heiner Müller, feststellen: Glauben Sie, Gysi würde so gut reden, wenn er schreiben könnte?

Gysi kann nicht schreiben, und das stellt er bereits mit dem ersten Satz im ersten Kapitel eindrucksvoll unter Beweis: „Die Entscheidung, für eine bestimmte Funktion auf politischer Ebene zu kandidieren, ist häufig nicht weniger schwerwiegend als der Entschluss, sich dafür nicht erneut zur Verfügung zu stellen.“ Der Leiter der Evangelischen Akademie Tutzing hätte es nicht spritziger formulieren können.

Gysi hat weder einen besonderen Sinn für den Aufbau eines Textes noch für Dramaturgie. Er schreibt die Sätze genau so, wie er sie spricht. Sind sie jedoch befreit von Gysis glänzender Rhethorik, klingen sie kompliziert und verquast. Dann merkt man manchmal sogar wieder, wo Gysi das Reden gelernt hat: „Im Gespräch mit dem Sekretär des Nationalrates der Französischen Kommunistischen Partei, Robert Hue, stellten wir fest, dass wir darin übereinstimmten, einen Krieg abzulehnen.“ Bei solchen Sätzen dürfte Egon Krenz ganz warm ums kalte Herz werden.

Für Gysis schlechten Stil gibt es zunächst eine ganz einfache Erklärung. Er hat sein Buch nicht geschrieben, sondern auf Band gesprochen. Viel gravierender dürfte jedoch sein, dass Gregor Gysi nicht mehr Gregor Gysi ist, wenn er keinen Gegner hat, der ihn herausfordert. Wenn er statt im Bundestag oder in einer Talkshow vor einem leeren Blatt Papier sitzt. Papier provoziert ihn nicht. Sein Witz, seine Schlagfertigkeit, seine Ironie sind plötzlich wie vom Boden verschluckt.

Gysis Buch ist nicht uninteressant, aber enttäuschend. Es hält nicht einmal das, was es verspricht. Es ist nicht das „höchst persönliche Buch“ eines Menschen, der vor über zehn Jahren zufällig in die große Politik geraten ist und der heute, auf dem Höhepunkt seiner Beliebtheit, freiwillig wieder aussteigt. Gysi schreibt weder über sich selbst noch über die PDS oder über Deutschland irgendetwas, was man von ihm so noch nicht gehört hätte. Selbst in dem Kapitel, in dem er über die Gründe für seinen Ausstieg aus der Politik nachdenkt, gibt Gysi nicht wirklich etwas von sich preis.

„Die Politik hat mich aufgefressen“, schreibt er. Aber dann folgen nur allgemeine Floskeln über den täglichen Druck in seinem Beruf. Kein Wort verliert Gysi über das, was das Politikerleben so zerstörerisch macht, über seine Illusion, Politiker zu sein und gleichzeitig Distanz zur Politik halten zu können, über sein schlechtes Gewissen als Vater, über seine Einsamkeit.

Gysi äußert sich stattdessen zu allem und jedem: zur PDS, zur Abwicklung der ostdeutschen Eliten, zu den Angriffen auf ihn als vermeintlicher Stasi-Spitzel, zur CDU, zur Wahl von Schröder, zum Jugoslawienkrieg. Das Ganze ist kräftig durchgerührt, zwischen zwei Buchdeckel verpackt und mit einem abgegriffenen Titel versehen: „Ein Blick zurück, ein Schritt nach vorn“. Sollen es die Memoiren eines Aussteigers sein? Oder der Großessay eines Zeitzeugen der Wiedervereinigung? Oder etwa die kühl kalkulierende Bewerbungsschrift eines Politikers in Wartestellung? Gysi will, dass sein Buch all das ist – geworden ist es von allem ein bisschen, also nichts davon.

Harald Schmidt hat einmal bekannt, dass er die Lebensgeschichten der Ostdeutschen nicht hören wolle. Sie hätten keine Pointe. Schmidt hat Recht. Früher war es so, und heute ist es anders – so klingen die meisten ostdeutschen Geschichten. Aber sie laufen auf nichts Besonderes hinaus. Gysi, der einzige ostdeutsche Popstar unter den Politikern, gehört zu den wenigen, dessen Lebensgeschichte eine Pointe hat – aber er hat sie grandios verschenkt. Das ist das Traurige an dem Buch.

Der Popstar selbst bekennt etwas großspurig, dass seine Situation die ganze Kompliziertheit der deutschen Vereinigung widerspiegelt. „Über viele Jahre haben sich an mir die Geister geschieden“, so Gysi. „Ich habe beides und manchmal extrem erlebt, Aggression und Ablehnung auf der einen, Zuneigung, fast Liebe, auf der anderen Seite.“ Heute ist der einstige Underdog in weiten Teilen der Gesellschaft anerkannt. Daraus hätte man eine richtig spannende Geschichte machen können.

Aber was macht Gysi? Er opfert diese Geschichte und verwandelt sich in einen Bundespräsidenten. Einen Johannes Rau der Sozialisten. Er steht über den Dingen. Er steht über den Parteien. Er steht sogar über der PDS, der er einen letzten väterlichen Rat mit auf den Weg gibt: Sie solle ruhig die linke Sozialdemokratie geben, das sei keine Schande für eine sozialistische Partei. Voraussetzung dafür sei aber, Teil dieser Gesellschaft zu werden.

Gregor Gysi hat gezeigt, wie das geht. Jetzt versöhnt er und spaltet nicht mehr. Für alle Großen seines Geschäfts findet er warme Worte. Schließlich haben sie noch alle seinen Rat eingeholt. Kohl? Kanzler der Einheit. Lafontaine? Klug und intelligent. Schröder? Kann nachempfinden, was Armut bedeutet. Schäuble? Beherrscht das Regieren. Westerwelle? „Ich bin davon überzeugt, dass nicht nur ich ihn, sondern auch er mich mag.“

Selbst wenn die Großen „nicht mehr imstande sind, miteinander zu reden“, wie Gysi am Ende seines Buches feststellt, Kohl nicht mit Schäuble, Schröder nicht mit Lafontaine – einer kann mit ihnen allen: Gysi.

Und wenn er nicht gestorben ist, dann redet er noch heute.

P. S.: Oder er ist Regierender Bürgermeister von Berlin.

Gregor Gysi: „Ein Blick zurück, ein Schritt nach vorn“. 384 Seiten. Hoffmann und Campe, 2001, 39,90 DM