Nutzen einer Auslöschung

Leo auf dem Schlachtfeld der German Gemütlichkeit: Peter O. Chotjewitz wundert sich über nichts und parodiert die gute alte Neue Subjektivität – „Als würdet ihr leben“

Man sollte mal, man müsste eigentlich – genau, zusammenficken sollte man alles und jeden, hieß es seinerzeit beim jungen, aber schon längst nicht mehr jugendlichen Rolf Dieter Brinkmann: „Argumentieren lohnt sich schon nicht mehr. Zusammenficken sollte man alles, zusammenficken.“

Mehr als dreißig Jahre später lässt Peter O. Chotjewitz seine jugendliche Leo(nie), die Protagonistin seines neuen Romans, im Ungestüm ihrer nicht einmal 18 Jahre nicht nur vom Schießen träumen, sondern es sie sogar (wenn auch erfolglos) gleich tun. Verstehen kann man sie dabei schon, die junge Berliner Göre, „Wunderkind“, das sie ist, Durchblickerin sozusagen und damit gnadenlose Beobachterin all jener deutschen Unwesen und Unwesentlichkeiten, die sie so wunderbar aufpickt und seziert.

Verstehen kann man auch Chotjewitz’ Romankonstruktion, die ins Genre des bürgerlichen Familienromans geschlüpft ist, um ebendort – im Herzen einer großen Familie – zu wüten. Wir schreiben den denkwürdigen 17. Juni 2000; es ist der Tag, an dem endlich passieren muss, was zu geschehen hat: ein Mord an (mindestens) einem Mitglied dieser deutschen Kernfamilie – bloß an wem? Rund die Hälfte des Romans entfällt auf die Reflexion über Nutzen und Gewinn einer solchen Auslöschung, die, was kurz geschildert ist, dann fürchterlich in die Hose geht, zum Schluss dann aber doch noch einen guten Schuss wert ist. Denn während des Gesprächs zwischen Vater Katzmann und Tochter Leo löst sich ein Schuss aus der Pistole, prallt die Kugel von der Bratpfanne, auf die der Vater gezielt hat, ab und trifft das Töchterlein am Kopf.

Nein, nicht tödlich, gott sei Dank nur leicht, so dass sie noch auf dem Krankenbett den Entschluss fassen kann, in einem Buch – ihrem Tagebuchroman – die abgelaufenen Ereignisse zu fixieren. Ein nahezu klassisches Ende. Titel: „als würdet ihr leben“. Die letzte Äußerung der Ich-Erzählerin: „Ich wundere mich über gar nichts mehr.“

Aber das klingt nun wieder überaus verräterisch, erinnert es uns – die weniger jugendlichen Leser zumindest – doch auf fatale Weise an jene „ausgebrannten Lebensprofis“, von denen in den Romanen der Vertreter der sog. Neuen Subjektivität während der Siebzigerjahre, eben in Texten von R. D. Brinkmann oder auch Nicolas Born, die Rede war.

Die hatten es alles schon längst hinter sich, hatten ausprobiert und experimentiert mit dem, was die Szenen, Frauen und Drogen so hergaben, und waren dabei so ziemlich mit ihrem Latein, vulgo: Parteichinesisch, und anderen Diskursen ans Ende gekommen. No way out. Rundheraus gesagt: Chotjewitz nimmt man diese Gefolgschaft und, da sich bekanntlich beim zweiten Mal dieselbe Geschichte dann als Komödie abspielt, diese durchaus witzige Parodie der Neuen Subjektivität ab, nicht dagegen seiner kindlich-jugendlichen Figur.

Das Buch ist so lange stimmig, solange Chotjewitz Leo sich auf dem familialen Schlachtfeld tummeln lässt. Zum Beispiel wenn sie über öde Feiertage nachdenkt, an denen sich die Liebsten, bevor sie schließlich, im Bierdunst grölend, ihre „German Gemütlichkeit“ demonstrieren, zunächst einmal fürchterlich beschweigen: „Man sitzt einfach da, rückt die Gegenstände zurecht, das Besteck, die Teller, betrachtet die Hirschgeweihe und ausgestopften Kleintiere, die Fotos an den Wänden, auf denen man sieht, wie das Gasthaus vor hundert Jahren aussah.“

Auch das selbstkritische Nachdenken über, ja die Polemik gegen die eigene Generation, „die Freizeit mit Freiheit verwechselt, Marienhof glotzt, seit ihrer Geburt von der letzten Loveparade schwärmt“, oder gar die hübschen Sottisen über Berlin und die Wahlberliner, diesen ganzen „Metropolenfimmel“, kann man ihr noch abnehmen. Nicht aber – und da zeigt sich wieder einmal der bei Chotjewitz öfter zu registrierende Drang zum Übermaß – die Kollegenschelte oder gar die poetologischen Überlegungen, die aus seinem Mund zwar überzeugend, aus dem seiner Figur aber reichlich deplaziert erscheinen. WERNER JUNG

Peter O. Chotjewitz: „Als würdet ihr leben“. Rotbuch Verlag, Hamburg 2001, 260 Seiten, 39,80 DM