„Fragen von Leben und Tod“

Interview: JENS KÖNIG
und PATRIK SCHWARZ

taz: Herr Voigt, wir Deutschen haben die Amerikaner ja neuerdings nicht mehr zu kritisieren. Und das bei einem Außenminister, der gegen den Golfkrieg war, und bei einem Bundeskanzler, der gegen den Vietnamkrieg demonstrierte. Wollen Sie als Ex-Juso-Vorsitzender es sich etwa auch mit niemandem in Washington verderben?

Karsten Voigt: Ich? Wenn ich nach Washington käme und dort auf einmal nicht mehr Teile der amerikanischen Politik kritisierte, dann würden meine Gesprächspartner mich nicht mehr wiedererkennen. Ich habe mir in meiner Position vorgenommen, hier in Berlin immer die besten Argumente der USA gegen unsere Politik vorzutragen – und in Washington deutlich zu machen, wo Schwächen amerikanischer Politik liegen. Ich verstehe meine Aufgabe darin, als eine Art Übersetzer und Frühwarnsystem zu dienen – in beide Richtungen.

Warum war dann der Außenminister nicht mutig genug, die USA wegen der Luftangriffe auf den Irak zu kritisieren?

Es gibt da durchaus eine Aufgabenteilung. Im Übrigen habe ich Joschka Fischers Auftritt nicht als kritiklos empfunden. Ich glaube auch nicht, dass Joschka Fischer und Gerhard Schröder in Zukunft auf Kritik generell verzichten wollen. Es kann sogar sein, dass sie durch ihre Zurückhaltung Handlungsspielräume eröffnen wollen, um in anderen Bereichen, in denen die deutsche Stimme mehr bewirken kann, mit umso größerem Nachdruck auftreten zu können.

Also geben Sie dem Bundeskanzler eine Liste von Themen mit auf den Weg ins Weiße Haus, über die er besser gar nicht erst redet?

Ganz im Gegenteil! Man muss immer unterscheiden, ob man in den USA gelobt werden will – oder respektiert. Respekt verdient man sich, indem man abweichende Meinungen auch klar benennt. Wenn es deutsche Interessen berührt, wird das drüben auch akzeptiert.

Zeigt nicht gerade der Fall des Raketenabwehrschilds NMD das Gegenteil? Kaum war der neue US-Präsident George Bush ins Weiße Haus eingezogen, gaben die Deutschen ihre Opposition auf.

Was heißt hier Opposition? Die Entscheidung in den USA ist gefallen, und dieses prinzipielle Ja zur Raketenabwehr würde auch durch deutsche Einwände nicht zu einem Nein verändert werden.

Die Deutschen versuchen es aber gar nicht erst.

Werfen Sie doch mal einen Blick auf die Situation der USA: Die Vereinigten Staaten sind heute die einzige Supermacht, aber sie sind nicht der „Master of the Universe“. Sie erleben, dass sie zu schwach sind, in Nahost eine Friedenslösung durchzusetzen, dass sie zu schwach sind, ihren Willen gegen Saddam Hussein durchzusetzen, dass sie zu schwach sind, ihren Willen gegen Nordkorea durchzusetzen. Das heißt, die einzige verbliebene Weltmacht entdeckt gleichzeitig die Grenzen ihrer Möglichkeiten.

Heizt nicht gerade dann eine einseitige Maßnahme wie der Raketenschild den Rüstungswettlauf wieder an?

Ich glaube, die Debatte in Deutschland leidet darunter, dass sie zu sehr in den Denkmustern der Welt vor 1989 abläuft. Die Amerikaner sagen uns: Ihr seid mit euren Einwänden nicht auf der Höhe der Zeit. NMD ist keine Wiederholung von Ronald Reagans SDI. Wir richten uns mit NMD nicht gegen Russland. Im Kalten Krieg funktionierte das Konzept der Abschreckung, weil sich trotz der Blockgegensätze beide Seiten rational verhielten. Heute hat man es mit einigen Regionen zu tun, die unkalkulierbar sind. Sie sind bereit, noch größere Risiken einzugehen, ja sogar Teile ihrer Bevölkerung für ihre Ziele zu opfern.

Aber eine Raketenabwehr schürt doch zwangsläufig Ängste vor amerikanischer Selbstherrlichkeit.

Deshalb ist es vernünftig, wenn wir Deutschen unseren amerikanischen Verbündeten Fragen stellen. Wie lässt sich verhindern, dass NMD die Beziehungen zu Russland verschlechtert? Kann man NMD in ein Konzept einbauen, mit dem die Zahl der nuklearen Offensivwaffen verringert wird? Kann man die Raketenabwehr mit neuen Rüstungskontrollinitiativen verbinden? Das sind legitime Fragen.

Bei Schröder klingt Opportunismus durch. Er fordert neuerdings, die deutsche Wirtschaft müsste an NMD teilhaben.

In internen Papieren war das immer schon eines unter mehreren Argumenten. Aber man muss nüchtern sehen: Das amerikanische Raketenabwehrprogramm ist kein Förderprogramm für die deutsche Industrie. Als solches ist es auch nicht geplant worden.

Hat sich die Bundesregierung nun schon entschieden, ob sie NMD unterstützt?

Muss man es denn gleich unterstützen? Überhaupt, das ist doch eine merkwürdige Diskussion hier in Deutschland. Da werden Glaubensbekenntnisse zu einer oder gegen eine Technik verlangt, von der die Amerikaner sagen, wir beginnen gerade erst zu prüfen, wie so ein System aussehen und wie es funktionieren kann. In dieser Phase Verständnis für die amerikanischen Überlegungen zu zeigen ist angebracht. Jetzt schon Unterstützung zu versprechen wäre verfrüht.

Manche Experten sagen, die wahren Konflikte zwischen Europäern und Amerikanern liegen gar nicht in der Außen- und Sicherheitspolitik. Stimmt das?

Ja. Richtig schwierig sind Fragen, bei denen es um Geld geht und gleichzeitig um unterschiedliche Wertvorstellungen.

Zum Beispiel?

Nehmen Sie die Sanktionen gegen Kuba. Da soll auch deutschen Firmen der Handel mit Havanna verboten werden. Die Mehrheit im Kongress ist der Meinung, dass sie mit den Sanktionen für das Gute in der Welt eintritt. Entsprechend wenig Gehör finde ich mit meinem Hinweis, dass der US-Kongress deutschen Firmen keine Vorschriften machen kann, wie sie sich gegenüber Kuba zu verhalten haben. Da bekomme ich zur Antwort: Karsten, willst du wirklich die Verletzung der Menschenrechte unterstützen? Gerade angesichts der Vergangenheit der Deutschen? Da steht man gleich in der unmoralischen Ecke.

Sind die Amerikaner vielleicht zu dogmatisch?

Nein, dasselbe gilt umgekehrt für die Europäer bei hormonbehandeltem Fleisch oder genveränderten Nahrungsmitteln. Da habe ich große Schwierigkeiten, in den USA deutlich zu machen, dass es uns bei Einfuhrverboten nicht um ökonomischen Protektionismus geht, sondern um tief empfundene Wertvorstellungen.

Aber beide Seiten betonen laufend, die USA und Europa seien eine Wertegemeinschaft.

Ja, aber Gen-Food und Klimaschutz, Todesstrafe und Abtreibung – das sind, überspitzt gesagt, Fragen von Leben und Tod. Dahinter stehen unterschiedlichen Auffassungen von der Schöpfung. Da kollidiert die Philosophie „Macht euch die Erde untertan“ mit der deutschen Idee, dass wir die gefährdete Natur vor dem übermächtigen Menschen schützen müssen. Das mag jetzt religiös klingen, aber der Einfluss der religiösen Rechten bei den Republikanern ist beträchtlich – und in gewisser Weise kann man auch Teile von Rot und Grün als politischen Ausdruck säkularisierter Heilsbewegungen verstehen.

Welche Konsequenzen haben diese Differenzen für Schröders Besuch in Washington?

Für die erste Begegnung vielleicht noch keine großen. Aber die unterschiedlichen Wertvorstellungen verändern die Art, wie die USA und Europa Außenpolitik betreiben müssen. Bei Wertefragen empfinden die Öffentlichkeiten in den USA und in Europa so stark, dass man mit traditionellen Mitteln der Außenpolitik nicht mehr weiterkommt.

Bill Clinton und Gerhard Schröder haben einiges gemeinsam: Beide stehen Mitte-links, sind von der Studentenbewegung beeinflusst, waren gegen den Vietnamkrieg. Mit dem texanischen Millionärssohn George Bush verbindet Schröder dagegen wenig.

Das geht nicht nur Gerhard Schröder so. Die rot-grüne Regierung kommt aus einem völlig anderen Milieu als dieAdministration von George W. Bush.

Welche politische Wirkung haben diese Unterschiede?

Ich glaube, die Amerikaner kommen ausgezeichnet damit klar. Die Joschka-Fischer-Biografie, das ist für sie eine deutsche Version der Geschichte vom Tellerwäscher zum Millionär. Selbst Konservative finden diese Entwicklung viel spannender als die Situation in Frankreich, wo immer die gleichen Eliten regieren. Ich habe eine ganz andere Reaktion erwartet. Aber der Weg, den Leute wie Fischer und Schröder gegangen sind, steht aus amerikanischer Sicht auch für ein frischeres Deutschlandbild, als sie es kennen. Statt Preußenerbe und Pünktlichkeit locken jetzt Hedonismus und ein Schuss Italien. Das hat seinen Reiz.

Schröder hat den Amerikanern schon mal „Meinungsverschiedenheiten“ angekündigt. Wird die rot-grüne Bundesregierung den USA künftig ganz offen ihre Meinung sagen?

Offen ja, aber nicht immer öffentlich. Schon gar nicht beim Antrittsbesuch. Wenn der Kanzler zum ersten Mal den amerikanischen Präsidenten trifft, geht es erst mal darum, eine gute und stabile Beziehung zu etablieren. Da sollte man nicht mit der Faust auf den Tisch hauen.

Aber später?

Wenn es angebracht ist.

Und wenn die Amerikaner sich gegen die deutschen Mahnungen sperren?

Wir vertreten ein Deutschland, das auch nach unserer eigenen Wahrnehmung eine stabile Demokratie ist. Damit sind wir nicht genauso mächtig wie die USA, haben aber genauso legitime Interessen. Wir werden häufig resignierend feststellen müssen, dass wir leider mehr Konzessionen machen müssen als die USA. Unser Einfluss in der Welt ist nun mal geringer. Aber stabil ist das Verhältnis nur, wenn beide Seiten Konzessionen machen müssen – nicht nur eine Seite.