Ewiger Zorn ist unchristlich

Gespräch mit dem Schachspieler Viktor Kortschnoi, der heute 70 Jahre alt wird, immer noch unter den ersten 50 der Weltrangliste steht und inzwischen selbst beim Erzfeind Karpow Menschliches erkennt

Interview HARTMUT METZ

taz: Herr Kortschnoi, 70 Jahre und noch immer voller Energie.

Viktor Kortschnoi: Ohne Energie muss man sich zum Sterben vorbereiten. Nicht nur Schach ist mit Energie verbunden, es gehört zum ganzen Leben. Ohne könnte ich mit allem aufhören.

Die meisten Weltklassespieler fallen eher mit 40 als mit 50 deutlich ab. Sie haben in dem Alter noch um die Weltmeisterschaft gekämpft.

Ich finde immer wieder etwas Interessantes auf dem Schachbrett. Ich arbeite ziemlich viel, auch wenn die neuen Entwicklungen mit Computern alten Leuten zu schaffen machen.

Sie haben Geschichte studiert, verfielen aber doch dem Schach.

Ich entschied mich bereits als 14-jähriger, Berufsspieler zu werden, obwohl ich gar nicht wusste, ob das überhaupt in der Sowjetunion möglich ist! Manchmal fragen mich die Leute, was wäre aus Ihnen ohne Schach geworden? Ich schätzte immer die Freiheit und konnte mich niemals wie ein normaler russischer Bürger unterordnen. Ohne Schach hätte ich deshalb als Geschichtslehrer irgendwo im entlegensten Winkel Sibiriens geendet.

Dreimal waren Sie Vizeweltmeister. Stets unterlagen Sie Anatoli Karpow.

Ich bin zufrieden. Es ist aber auch schwierig zu sagen, warum ich nie Weltmeister wurde. Ich könnte leicht behaupten: Leonid Breschnew wollte nicht, dass ich Weltmeister werde. In der Tat war die Sache viel komplizierter. Mein Problem war, dass ich zu spät alle Feinheiten des Schachspiels lernte. In dieser Zeit verbrauchte ich viel meiner Energie. Ich wollte zumindest einen Tag Weltmeister sein.

Karpow hätte geduldig 100 Remis hintereinander geschoben, wenn es dem Titelgewinn gedient hätte.

Das ist klar. Mir fehlt auch mit 70 noch die Geduld und ich bin so ambitioniert, dass ich keine Remisserie hinzulegen gedenke. Karpow war aber vor vielen Jahren auch so ehrgeizig, dass er kein Remis machte. Jetzt hat er Probleme mit der Energie und der Eröffnungstheorie, die ihm keiner mehr zuträgt. Er war sehr stark. Vor allem in dem Wettkampf, als er mit 5:0 gegen Kasparow führte. Das war phänomenal und vielleicht die beste Leistung seines Lebens.

Karpow jammerte einmal, das verpasste 6:0 sei sein größter Fehler gewesen. Dann wäre Kasparow nie mehr auf die Beine gekommen.

(lacht aus vollem Hals): Jawohl. Das ist das große Pech seines Lebens. Ansonsten wäre er Weltmeister bis 2000 geblieben.

Das amüsiert Sie?

Natürlich, natürlich. Das war göttliche Fügung.

Sie mögen Kasparow schon allein deswegen, weil er Sie rächte?

Ja, ja, hähähä.

Wie ist Ihr Verhältnis zu Kasparow?

Er ist keine leichte Person. Wir wissen, dass er ein genialer Schachspieler ist. Es ist aber genauso offensichtlich, dass er in einem totalitären Staat aufwuchs und deshalb zu diktatorischen Zügen neigt. Er will alles bestimmen. Ich geriet auch mit ihm aneinander, als er die Großmeisterorganisation GMA beherrschen wollte, die Kollegen aber mir folgten. Inzwischen verstehen wir uns aber wieder. Es wäre auch unchristlich, ewig Zorn in der Brust zu tragen. Ich versuchte auch, etwas Menschliches in Karpow zu finden.

Und?

Es ist mir gelungen! Dann wollte ich mit Karpow nicht nur diplomatische Beziehungen aufbauen, sondern mehr oder minder freundlich mit ihm reden. Er war und ist aber ein Vertreter der russischen Reaktionäre.

Sie stehen momentan auf Platz 46 der Weltrangliste, Karpow auf 20 und wird immer schlechter. Späte Genugtuung, dass Sie ihn bald überholen werden?

Ich schätze, wir treffen uns in zwei Jahren in der Weltrangliste – danach fällt er für ewig hinter mich. Und in vier Jahren ist er vergessen.

Nach Ihrer Flucht vor 25 Jahren vagabundierten Sie zunächst in Europa umher und landeten letztlich in der Schweiz. Die richtige Entscheidung?

Wegen meiner zweiten Frau kam ich hierher. In Russland werden die Männer im Durchschnitt nur 56, hier liegt die Lebenserwartung bei 78. Mir gefällt es hier und ich nahm in der Schweiz alles bis auf eines mit Vergnügen an: Ich betrachte Neutralität als schlimme Krankheit! Und ich will nicht von Neutralität angesteckt werden!

Wie schaffen Sie es, noch nach fünf Stunden Spielzeit den 40, 50 Jahre jüngeren Topspielern Paroli zu bieten?

Ich benötige als Ausgleich für den Kopf auch körperlichen Sport. Ich marschiere fast jeden Tag bis zu zehn Kilometer, weil ich nicht mehr Auto fahre.

Sie sind der einzige Weltklassespieler über 50. Wollen Sie gar nicht in Rente gehen?

Wissen Sie, was unlängst passierte? Die Rentenanstalt wollte mich zwingen, in Rente zu gehen. Meine Frau erhält jetzt eine Pension – und ich zahle weiter in die Rentenkasse ein! Solange ich keine schreckliche Niederlage erleide und zum Prügelknaben werde, spiele ich weiter. Ich wurde vor zwei Jahren in Holland sogar einmal Letzter. Das kann ich überleben – aber nicht zu viel davon!