zwischen den rillen
: Soul aus dem Archiv: Lina schwelgt in Swing-Zitaten

Harlem Renaissance recycelt

Was ist nicht schon alles zum Sample geworden. Funk und Soul, klar. Achtziger-Pop, klar. Disco, auch klar. Bebop. Latinfunk. Afrofunk. DooWop. Alles Mögliche ist schon gesampelt worden, überall hat man sich schon Breaks, Basslinien und Melodien herausgezogen. Das gesamte Archiv schwarzer Musik ist auf der Suche nach verwertbaren Schnipseln durchsucht worden – nur Swing, das hat noch niemand verwurstet. Warum? Weil es im Original nicht auf Vinyl erschienen ist, sondern auf Schellack, und es dementsprechend kein DJ auflegt? Und nur das zum Sampeln taugt, was auch DJs spielen?

Nun ist es passiert. Lina heißt die Sängerin, die antritt, dies zu ändern, und wenn man sich ihre Biografie anschaut, so scheint es fast, als sei sie am Reißbrett entworfen worden. Geboren und aufgewachsen ist sie in Texas, dort, wo auch Destiny’s Child herkommen und Erykah Badu. Ihre Mutter hörte den ganzen Tag Jazz und Swing, so geht wenigstens die Legende, deshalb ist diese Musik bei ihrer Tochter tief ins musikalische Unbewusste eingesunken. Im Kirchenchor lernte sie singen. Nun lebt sie in Los Angeles, und irgendein findiger Musikmanager muss sich wohl gedacht haben, damit lässt sich doch was anfangen: Warum eigentlich nicht Jazz?

Ja, warum nicht Jazz? Vor allem, warum eigentlich nicht Swing? Wieso nicht diese Musik als Referenzrahmen für eine Soulplatte benutzen?

Wenn man „Stranger On Earth“ hört, weiß man, warum: Es hört sich merkwürdig an. Dabei bietet sich Swing eigentlich als Referenzmodell an. Zwar muss man auf die eindeutigte Coolness verzichten, die man mitgeliefert bekommt, wenn man sich etwa auf den Jazz der Fünfziger und Sechziger bezieht – Cover, die mittlerweile in Museen hängen, verrauchte Clubs, dunkle Anzüge, Heroin und Zigaretten ohne Filter. Dafür gibt es aber die Swingsängerinnen wie Sarah Vaughan, Josephine Baker oder Dinah Washington, deren Posen man zitieren und deren Roben man zum Vorbild nehmen kann, wenn man die Fotos für das Booklet machen lässt. Und es gibt die Harlem Renaissance, die afroamerikanische Kultur der Zwanziger, die man im Hintergrund als kulturhistorischen Bedeutungshorizont mitschwingen lassen kann.

Und trotzdem hört es sich merkwürdig an. So modern das Rhythmusgerüst ist – bei fast allen Stücken sind diese merkwürdig quietschigen Bläsersätze im Hintergrund, Musik aus der Zeit, als Klarinette noch ein Leadinstrument war und ein Bläsersatz drei Saxophone, zwei Trompeten und zwei Posaunen hatte. Aber vielleicht ist es auch gar nicht die Instrumentierung, vielleicht ist es nicht mal das ferne kulturelle Kontinuum – das ist immerhin Musik, die unsere Großeltern hätten hören können –, vielleicht ist es einfach die Aufnahmetechnik. Vielleicht stellt sich die Distanz zu Swing einfach so deutlich dar, weil das Sample sofort als solches erkennbar ist. Es sticht heraus, zwischen den computergenerierten Bassläufen und den Beats aus der Drummachine. So stehen Swing-Samples neben Drum-’n’-Bass-Breaks, und was noch merkwürdiger ist als der Sound: Es passt sogar.

Denn das, was Lina da macht, ist eigentlich nicht retro. Im Unterschied zu der Musik von Erykah Badu oder D’Angelo etwa, die immer auch davon handelt, die Geister der Vergangenheit zu beschwören, geht es bei Lina eher darum, gut auszusehen und sich gut anzuhören. Zu nah an die alte Zeit will sie gar nicht heran. Obwohl es sich anbieten würde: Lina singt keinen einzigen Jazz-Standard.

Aber wahrscheinlich reicht es Lina, die Posen der Jazzdiven nachzustellen – alles andere wäre auch schwierig, ging es in den Dreißigern doch vor allem darum, das eigene Leiden auszustellen. Und das interessiert Lina überhaupt nicht. Wenn es um die Lyrics geht, orientiert sich Lina eher an der gängigen Konfektion des kontemporären R ’n’ B. Es geht um das Liebesleben moderner Großstadtbewohner – um Freundinnen, die in komplizierten Beziehungen stecken und denen man Rat geben muss, es gibt ein Lied an einen Jungen, der unter Bindungsangst leidet und dem Lina erklärt, sie sei nicht sein Feind, oder einen lieblichen Song an einen Mann, dem Lina mitteilt, jetzt habe sie endgültig die Nase voll und lasse ihn liegen.

Letztlich ist es einfach hübscher Kaffeehaus-Soul. Nicht mehr und nicht weniger.

TOBIAS RAPP

Lina: „Stranger On Earth“ (WEA)