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: Urteil zu Gunsten der Menschenrechte

Krenz in der Rechtsstaats-Falle

In der Beschwerdesache Krenz und Genossen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gestern ein Urteil gefällt, das politisch begrüßenswert ist.

Das Gericht hatte sich mit der schwierigen Frage zu befassen, ob deren Verurteilung vereinbar ist mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, die den Satz „Keine Strafe ohne bei Tatzeit bestehende Strafnorm“ ausdrücklich festschreibt. Die Straßburger Richter haben sich bei ihrem Urteil auf keinerlei Diskussion darüber eingelassen, ob das Verbot rückwirkender Bestrafung seine Grenze fände bei schwer wiegenden, die Menschenrechte mit Füßen tretenden Taten. Stattdessen stellte das Gericht einfach fest: Die DDR-Gesetze und die DDR-Verfassung selbst verboten die Praxis der Todesschüsse an der deutsch-deutschen Grenze. Das gehe aus dem Grundrecht auf Leben hervor, das auch im DDR-Recht konkret verankert gewesen sei.

Natürlich hat eine solche rechtsstaatskonforme und menschenrechtsfreundliche Auslegung der DDR-Gesetze „ex post“ etwas Künstliches an sich. Jeder DDR-Bürger kannte die Praxis der Staatsorgane an der Grenze, wusste, dass Todesschützen keineswegs belangt, sondern ausgezeichnet wurden. Gleichzeitig aber gilt: Die rechtsstaatlichen Elemente des DDR-Rechts waren nicht bloße Fassade. Sie sind Teil der Kompromisse, die die Realsozialisten mit ihrer Bevölkerung eingingen.

Zudem sollte so die DDR gegenüber dem Ausland als zivilisierter Staat ausgewiesen werden. Zwischen dem Willkürcharakter des Realsozialismus und seiner behaupteten Rechtsstaatlichkeit hat stets ein realer Widerspruch existiert. Es ist deshalb rechtens, die Handlungen der SED-Führer an der von ihnen behaupteten Rechtsstaatlichkeit zu messen.

Dass auch das Urteil gegen den Beschwerde führenden Todesschützen an der Grenze in Straßburg nicht moniert wurde, folgt aus dem gleichen Begründungszusammenhang. Die Abweisung der Beschwerde zeigt, dass auch einfachen Vollstreckern der Repression zugemutet werden muss, sie an den rechtsstaatlichen Prinzipien zu messen, die geltendes Recht waren. Einer menschenrechtsorientierten Politik mit universellen Standards stärkt deshalb der Richtspruch den Rücken. CHRISTIAN SEMLER