Die verachtete Zeit

In den Siebzigern wurde das überwunden geglaubte deutsche Gewalterbe hysterisch ausagiert. Und doch vollzog sich damals ein entscheidendes Stück Zivilisationsgeschichte – die Verwandlung von Gewalt in Macht

von CHRISTIAN SCHNEIDER

Wenn wir Glück haben, werden spätere Generationen sich fragen, wie es einer zivilisierten Gesellschaft gelingen konnte, so präzise die Möglichkeiten zu verpassen, sich über ihre eigene Geschichte zu verständigen. An allen wichtigen Einsatzpunkten. Möglich, dass die aktuelle Debatte über 1968 und die Transformationszeit der Siebzigerjahre dann bereits hinter mächtigeren Daten wie 1945 oder 1989 verschwunden sein wird. Was kein Wunder wäre.

Derzeit geben sich die dramatis personae der politischen Bühne alle Mühe, Geschichtsreflexion in eine Farce zu verwandeln. Was noch einmal die – unrhetorische – Frage nahe legt: Worum geht es eigentlich? Um die Gleichursprünglichkeit von Terrorismus und Neuer Mitte? Um die Verantwortung für Gewalttaten, die jetzt als „Vergangenheit, die nicht vergeht“ (Ernst Nolte) unsere demokratische Gegenwart heimsucht? Um Schuld und Sühne – so wie es sich die Opposition der Unbedarften vorstellt? Ja. Darum geht es. Allerdings nicht ganz so einfach, wie manche es sich zurechtlegen. Im Land der politischen Doppelbelichtungen ist in dieser Hinsicht nichts einfach.

Tatsächlich, die Siebziger, das stillose, verachtete Jahrzehnt, sind vor allem eins: unverstanden. Unverstanden ist bis heute die kuriose Konfrontation von Geschichtsfragmenten und fragmentierten Geschichten, die sich damals wild ineinander und miteinander mischten. Unverstanden die Durchdringung von historischen flashbacks mit dem Versuch eines Neuanfangs ebenso wie die damaligen Neuauflagen und Neuinszenierungen einer gewaltigen, einer gewalttätigen Vergangenheit.

Die verwirrende Unklarheit dieses Jahrzehnts, die sich noch einmal in der aktuellen Debatte spiegelt, hängt damit zusammen, dass die überfällige Modernisierung der deutschen Gesellschaft, die demokratische Normalisierung des politischen Systems, bis dato keine wirkliche psychische Entsprechung gefunden hatte. Eine adäquate Erneuerung des psychischen und sozialen Habitus wurde in der jungen Demokratie, die subkutan unter ihrem negativen Ursprung in einem Exzess von Schuld und Gewalt litt, lange Zeit nicht zugelassen. Diese psychische Modernisierung erfolgte – in gebrochener, zweideutiger und gewalttätiger Form – erst in der Verwandlungszone jener Siebzigerjahre. Bis heute nicht verstanden ist der Zusammenhang zwischen der Wiederkehr gewaltsamer Formen der politischen Auseinandersetzung und der Etablierung des sozialdemokratischen Modells einer civil society.

Mitten in jener Reformzeit, die erstmals „abweichenden Lebensentwürfen“ eine gewisse Gestaltungsmöglichkeit einräumte, meldete sich, scheinbar kontextfrei, ein unerledigtes Stück Geschichte zurück. Im Jahrzehnt des Patchworks und der Collage geschah das, wovor alle Angst hatten: Angesichts der Hoffnung auf eine neue Zeit wiederholte sich die Geschichte.

Im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess tauchte die deutsche Gewaltgeschichte als Krieg zwischen den Generationen auf – in rätselhaften Bruchstücken. Ein bisschen Weimar, ein bisschen Stalingrad, ein bisschen Nürnberg, ein bisschen Trizonesien war im Spiel. Nichts war damals klar, noch nicht einmal die Träume.

Seltsame Ironie, dass ausgerechnet diejenigen, die sich am rebellischen 68 orientierten, ihren Initialtraum des Neuanfangs auf der Leinwand betrachten konnten. Sergio Leones 1968 produzierter Neowestern „Spiel mir das Lied vom Tod“, der das klassische Genre ebenso brach wie das damals neu geschaffene des Italowesterns, lieferte die Bilder und die Begleitmusik für die Siebzigerjahre. Und das Programm.

Es war plausibel: Nachdem die Mörder aus der Welt geschafft und die Opfer gerächt waren, werden – im Schlussbild – die Außenseiter sesshaft. Nach dem blutig bereinigten Konflikt folgt die eigentliche Landnahme.

Die Landnahme ist, wie wir dank Hollywood wissen, der Stoff des klassischen Western. Die Transformationsphase der Siebziger hat etwas davon. Für die Achtundsechziger jedenfalls wurde das sozialdemokratische Jahrzehnt zur biographischen Nachkriegszeit: Es wurde angepackt und aufgebaut. Die Älteren investierten in Parteien, die jüngeren in neue Heimat. Nicht nur als Hausbesetzer. Auch mental, in der hauseigenen Produktion alternativer Lagerfeuerromantik. Von manchmal penetranter Sentimentalität.

Für die außerparlamentarische Alternative wurden die Siebziger das Jahrzehnt der lebensweltlichen Landnahmen. In ihm wurden claims für Lebensentwürfe abgesteckt, die nicht mehr auf das ohnmächtige Anti der späten Sechziger fixiert bleiben wollten.

Dass sich ein Großteil der Akteure dieser kulturellen Landnahme ins falsche Genre verliebt hatte, ist freilich nicht nur ein dummer Zufall. Es entsprach der Zeit. Im Spitzenprodukt der alternativen Leitkultur jener Jahre, im Italowestern, geht es schließlich um etwas völlig anderes als im Hollywoodklassiker: nämlich um die Identität des einsamen Helden; des Außenseiters, dem vor Zeiten ein großes Unrecht angetan wurde.

Es geht um das Opfer, das als Rächer wiederkehrt und sich das Recht zur Gewaltausübung nimmt. Djangos Gewalt ist immer Gegengewalt. Die Siebzigerjahre wurden in Deutschland vom Mythos der notwendigen und legitimen Gegengewalt beherrscht.

Die Alternativen dieser Zeit verstanden sich nicht nur als Außenseiter ihrer Gesellschaft, sondern standen in ihrem emphatischen und hybriden Selbstverständnis für die Erniedrigten und Beleidigten der ganzen Welt. Ihre Phantasien waren davon beherrscht, Opfer zu sein. Galten die Sympathien den „Ausgebeuteten der Dritten Welt“, so waren ihre unbewussten Identifikationen im Gewaltnetz der deutschen Geschichte gefangen. Sie galten den Opfern ihrer Eltern – bis hin zu Inszenierungen, in denen die Differenz von Phantasie und Realität nahezu verschwand. Das eigene Leben hatte dafür einzustehen, etwas wieder gutzumachen, zu retten – und sich zu wehren. „Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt.“

Die „alternative Geschichte“, die in den Siebzigerjahren begann, war der Versuch einer Renaissance, deren großes Thema die Transformation des Opferstatus war. Wovon die Praxis der Namensgebung für die eigenen Kinder – Benjamin, Sarah, David und Mirjam – nicht weniger zeugt als der heute wieder ausgegrabene Spruch des Bundesaußenministers: „Nie wieder Opfer sein!“

Für die Opferidentifikation der Generation, die im oder kurz nach dem Krieg geboren wurde, war der politische Bühnenwechsel keineswegs nebensächlich. Wer 68 gegen ein „faschistoides System“ kämpfte, dessen Frontmann Kurt Georg Kiesinger ein ehemaliger Nazifunktionär war, befand sich in stimmigeren Verhältnissen als diejenigen, die an der Spitze des „Repressionsstaates“ auf einen wie Willy Brandt trafen, der als Antifaschist, Linker und Emigrant für sie eigentlich auf die richtige Seite der Geschichte gehörte.

Dass ausgerechnet einer aus dieser Traditionslinie als derjenige erschien, der sowohl die Versuche zu einer alternativen Existenz im Namen der Ordnung angriff als auch vielen die Verwandlung des Außenseitertums in ein bürgerliches Leben durch die Praxis des Berufsverbots unmöglich machte, gehört zum typischen Zeitsignet. Es verstärkte die Möglichkeit zu paranoiden Projektionen. Man hatte es nicht mehr nur mit der gefürchteten Nazikontinuität zu tun, sondern mit dem Gespenst eines „neuen Faschismus“. Die alte Angst vor der Wiederkehr des Bösen konnte sich mit der vor seiner neuen Gestalt mischen.

Umso legitimer erschienen deshalb jene Formen von Gegengewalt, die sich mit Positivem amalgamierten. Das damals aufkommende Wort von den „Instandbesetzern“ steht dafür paradigmatisch: Die Desperados setzten dem destruktiven Abrisskapitalismus konservative Werte handgreiflich entgegen.

Django als Landnehmer, die Ikone des Genrebruchs, ist der wahre Säulenheilige der Siebzigerjahre: Rächer oder Siedler, Außenseiter oder Existenzgründer: Gewalt oder Recht? Die Politik der Alternativen in dieser Zeit bestand nicht zuletzt darin, bestimmte Alternativen schlicht zu ignorieren.

Die Wiederkehr der Gewalt in den Siebzigern hängt damit zusammen, dass die heimliche Gründungsgewalt der zweiten deutschen Republik eben keine war, die allein vom Staat ausging. Das Phantasma der Gegengewalt war der psychische Gegenentwurf zur kollektiv verleugneten Gewalt einer „Volksgemeinschaft“, die sich 1949 eine neue staatliche Form gegeben hatte. Man sah sie noch wirken – direkt gegen die eigene Alternative gerichtet.

Das psychisch unaufgelöste Gewaltverhältnis der Nazizeit, seine Fortexistenz in bewussten und unbewussten Phantasien war der große Maßstabsverzerrer für die Politik der Nachgeborenen. Vor der Dimension von Verbrechen, die aufs Konto der Vätergeneration gingen, schien alles möglich. Und jede Gegenwehr legitim. Beim kleinsten Anzeichen. Man wusste doch: „Wehret den Anfängen.“

Es ist ein simples historisches und psychologisches Faktum: Jede vergangene Gewalt meldet sich zurück. Früher oder später und in den unterschiedlichsten Formen. In den Siebzigerjahren wurde das politisch überwunden geglaubte Gewalterbe bewusstlos und hysterisch agiert. Man litt auf allen Seiten an Reminiszenzen. Und doch repräsentieren sie ein entscheidendes Stück Zivilisationsgeschichte im Land des Zivilisationsbruchs. Im Schatten der unseligen Konfrontation des modernen Sicherheitsstaates mit der verunsichernden Gewalt eines versprengten Haufens Verzweifelter vollzog sich eine bis heute unbegriffene Verwandlung.

Ihre heimlichen Hauptakteure waren diejenigen, die zwischen den Fronten von Staat und Terror, von Gewaltmonopol und Gegengewalt, das politische Feld neu zu definieren suchten. Was sich in ihrem „Nie mehr Opfer sein!“ vorbereitete, war die Metamorphose, die notwendig war, um die Modernisierungsreserve der nachwachsenden Generation aus der Verstrickung in ihr Gewalterbe zu lösen: die Verwandlung von Gewalt in Macht. Macht anzustreben: die Vorstellung, Machtträger im Rahmen demokratischer Verhältnisse zu sein, impliziert die Sublimierung archaischer Gewaltphantasien. Ohnmacht nicht mehr gewalttätig zu kompensieren, ist der zivilisatorische Fortschritt par excellence.

Diejenigen, die in den Siebzigern die ersten Schritte machten, das Notprogramm des Sichwehrens auf Machtgewinn umzustellen, haben, gleichgültig aus welchen persönlichen Gründen, Entscheidendes dafür getan, aus der endlosen Spirale der Gegengewalt auszubrechen.

Wir haben heute Schwierigkeiten zu verstehen, dass der Katalysator für die Aufgabe der selbst gewählten Opferrolle wiederum Gewalt war – und das Erschrecken über sie. Sie ist nicht, auch nachträglich nicht, legitimierend schönzureden. Aber man kann – und sollte – die Geschichte dieser Gewalt kennen. Auf ihrem Hintergrund könnte man dann sogar anfangen, etwas zu verstehen. Von damals. Von den unverständlichen Siebzigern. Samt ihrer langen Vorgeschichte. Und deren ungebrochener Aktualität. Also von heute. Aber wie es scheint, sind wir nicht so weit.

CHRISTIAN SCHNEIDER, 50, ist Forschungsanalytiker am Frankfurter Sigmund-Freud-Institut