Radler ohne Bremsen

Die Fahrradkuriere Jens und Hendrik düsen auf Bahnrädern durch die Stadt. Ohne Freilauf hilft nur: treten, treten, treten  ■ Von Gernot Knödler

Wenn Jens und Hendrik an der Ampel stehen, kann es vorkommen, dass andere Radler sie verblüfft anstarren. „Die gucken einmal, zweimal, und dann sagen sie: ,Du hast ja gar keine Bremsen'“, erzählt Jens. Ganz recht. Keine Bremsen, keine Schaltung, keinen Freilauf. Jens und Hendrik gehören zu der winzigen Minderheit von Radkurieren, die mit Bahnrädern durch die Stadt düsen.

Solche Räder werden speziell für die Halle konstruiert. Mit ihnen lassen sich Flieger-Rennen fahren, bei denen sich die Teilnehmer minutenlang kaum bewegen, bis sich einer aus vorteilhafter Position zum Spurt entschließt.

Die beiden selbständigen Radkuriere mit ihren Kinnbärten sehen so verwegen aus, wie es ihre Räder nahe legen: Hendrik trägt schwarz, ein Piraten-Kopftuch, Totenkopf-Handschuhe und ein Stück Fahrrad-Kette als Armband. Jens hat sich eine abgeschnittene Bundeswehr-Hose über die Profi-Radler-Kluft gezogen und wärmt seinen Kopf mit einer schwarzen Schirm-Wollmütze. Beide sind behängt mit Kuriertaschen und Walkie-Talkies. Ihre Fahrrad-Schuhe klingen auf dem Fußboden wie die Stollen von Fußballern.

Normalmenschen packt das kalte Grausen, wenn sie sich auf die Bahnräder der beiden Jungs setzen. Denn wenn das Ding einmal in Bewegung ist, bleibt dem Pedaleur nichts anderes übrig, als zu treten, zu treten und nochmal zu treten – wie beim Kinder-Dreirad. Mit Kraft lässt sich die sausende Fahrt etwas verzögern; eine Vollbremsung ist aber eine Sache für sich. Auch Kollegen reagieren deshalb oft mit Unverständnis darauf, dass sich einer mit einem solchen Rad in den Stadtverkehr stürzt. „Viele Straßenrad-Fahrer verstehen das nicht, dass man sich so umgewöhnen kann“, sagt Hendrik.

Doch gerade das macht für seinen Kollegen Jens einen der Vorteile aus, die ein Bahnrad im Alltag bietet: Er braucht es nicht abzuschließen, weil kaum ein anderer damit fahren kann. Ein weiterer Vorteil ist der geringe Reparatur- und Wartungsbedarf des Rades. Hat der Fahrer etwas Routine, kommt als Verschleißteil nur der Mantel des Hinterrades in Frage, denn mit dem wird gebremst. Die Kette ist so dick wie bei einem Holland-Rad und daher ebenso widerstandsfähig wie das robuste Ritzel. Hendrik fährt sogar eine Mofa-Kette, weil der Antrieb beim Bahnrad ebenso wie der Rahmen größere Kräfte aufnehmen muss als bei einem Rennrad oder einem Mountain-Bike.

Denn die Kette ersetzt die Bremse, wie Hendrik demonstriert: In voller Fahrt bringt er seinen Körperschwerpunkt über den Lenker, lüpft damit etwas das Hinterrad und blockiert es gleichzeitig. Das blockierte Rad knallt wieder auf die Straße und bremst Mann und Maschine. Die Technik setzt Klick-Pedale voraus und einige Übung. Anfängern reißt durchaus mal die Kette, die wunderbar beschleunigt dem Fahrer um die Ohren fliegt. „Das passiert einem höchstens ein- oder zweimal“, versichert Hendrik.

Einen „Unfall mit Dritten“ habe er noch nie gehabt, behauptet Jens. Das Bahnrad zwinge zu einem vor- und umsichtigen Fahrstil. „Man muss viel mehr darauf achten, was um einen 'rum ist“, lautet die Erfahrung des Kuriers. So ein Rad verzeiht ungern Fehler, dafür schafft es einen direkten Kontakt zwischen Mensch und Maschine. „Man merkt, was das Rad machen kann“, sagt Jens, der auf der Weltmeisterschaft der Fahrrad-Kuriere zum ersten Mal ein Bahnrad ausprobiert hat. „Das hat mich gepackt“, sagt er, weil ich mit dem Rad überhaupt nicht umgehen konnte.“ Jetzt fährt er zwischen 350 und 500 Kilometer damit, jede Woche.

Der Straßenverkehrsordnung entspricht so ein Bike selbstredend nicht. Doch erstens fahren Profis wie Jens oder Hendrik sehr sicher und zweitens, meint Jens, „sind 80 Prozent der Räder in Hamburg nicht vorschriftsmäßig“. Fast jede Radlerin sei daher darauf angewiesen, dass die Polizei ein Auge zudrückt.