„Es ginge alles besser, wenn man mehr ginge“

Welche Bücher ich gerne verlegen würde (6): Wolfgang Hörner, Programmleiter von Eichborn Berlin, träumt von der englischen Literatur der Renaissance, den traurigen Arbeiterkindern des neunzehnten Jahrhunderts und einer Buchreihe, die endlich Poesie und Wissenschaft versöhnt

Es ist ein Kreuz mit der Verlegerei. Ein wunderschönes, das schon – aber richtig grausam ist, dass man so unendlich viele wunderbare Bücher einfach nicht machen kann. Meist sind die schönsten, wahrsten und besten Bücher Zuschussgeschäfte, die sich Verlage, die bekanntlich ohne Subventionen Kultur machen, nur selten leisten können.

So fallen also all die wunderbaren, aber etwas abgelegenen alten Autoren weg: der Renaissance-Engländer Edmund Spenser mit seinem Riesenepos „The Fairy Queen“ – eins der grandiosesten (aber natürlich auch am schwersten zu übersetzenden) Sprachkunstwerke der Weltliteratur. Der schockierend sprach- und farbenprächtige Kosmos der Dramen der Shakespearezeit (Middleton, Kydd, Ford, Webster u. a.), der – in einer Anthologie versammelt – drei fruchtlose Jahrhunderte blasser deutscher Theaterstücke mühelos von der Bühne fegen könnte.

Oder der englische Lyriker John Clare, einer der unaffektiertesten, aber erschütterndsten Dichter englischer Zunge, ein mittelloser Arbeitersohn, der sich Anfang des 19. Jahrhunderts als Erntehelfer, Schäfer und Bauer durchschlug, bevor er 1837 ins Irrenhaus eingeliefert wurde. Trotz elend schlechter Schulbildung stammen von ihm die zartesten und ergreifendsten Naturgedichte der englischen Sprache, fragile Kunstgebilde aus Bauernhand. Auch seine Poeme über die Isolation und Depression durch seine Krankheit sind so frei von Larmoyanz, aus dem Geist verstörten Staunens über die Entfremdung vom eigenen Ich und der Umwelt geschrieben, und dennoch von solcher Zerbrechlichkeit, dass ich nichts Vergleichbares kenne.

Oder der luzide amerikanische Lyriker George Oppen, der von 1932 bis 1978 große Lyrik schrieb und mit „Of being numerous“ 1968 eins der gültigsten Langgedichte über den Massenmenschen und die Großstadt schrieb. Oder der bösartige, zungenscharfe, natürlich von den Nazis vertriebene und verfolgte deutsche Hasser und Spötter Kurt Hiller. Na ja, undundundund . . .

Dann sind da zirka 450 Bücher, die bei anderen Verlagen erschienen sind. Klar, die Bücher gibt es, aber man hätte sie gern bei sich gemacht. Albert Vigoleis Thelens großen Klassiker „Die Insel des zweiten Gesichts“ etwa, an deren Fortsetzung der Autor bis zu seinem Tode arbeitete. Den publizierten Urtext plus die versprengten Teile der Fortsetzung herausbringen – was für ein Buch, finanzierbar aber eher für Taschenbuchverlage oder den, der die Rechte an Thelen eh hat.

Dann gibt es Bücher, bei denen man die richtige Mischung aus Konzeption und Inhalt noch nicht gefunden hat – etwa einen Band über das Gehen, der die perfekte Collage aus alten Texten, neuen Beiträgen und typographischer Virtuosität sein müsste, ein Augenlustbuch mit schreitenden Texten und siebenmeilenstiefeligen Gedanken über die langsamste und gründlichste aller Fortbewegungsarten – „es ginge alles besser, wenn man mehr ginge“.

Oder Bücher, für die man schlicht der falsche Verlag ist – ein grässlich-grandioser Bildband über Verdammnisdarstellungen in der Malerei schwebt mir manchmal nachts in meinen Träumen vor. Großformat, erstklassige Bildqualität, ein farbenprächtiges Inferno aus den Dunkelkammern der menschlichen Phantasie.

Dazu kommen all die Bücher, für die man noch nicht die richtigen Partner gefunden hat: Für die große Plato-Ausgabe, die uns endlich den Dichterphilosophen in zeitgemäßer Sprache gibt, fehlt der geniale Übersetzer, der sowohl Dichter wie Philosoph und Philologe ist; für die dringend nötige Korrektur und Fortschreibung von Paul Englischs Geschichte der erotischen Literatur aller Zeiten und Völker ins dritte Jahrtausend der manisch sammelnde, das gigantische Material souverän über- und durchschauende und dazu noch elegant formulierende Kenner und Könner; und für eine von Raoul Schrott herausgegebene Buchreihe, die Wissenschaft und Poesie versöhnt, eine Universalbibliothek der vom unlöschbar neugierigen Dichter ausgewählten gemeinverständlichen Wissenschaftsbücher, der Sponsor.

WOLFGANG HÖRNER