„Waliser wählen Labour“

Karl Marx hat seine Jugend ruiniert: James Dean Bradfield, der Sänger der Manic Street Preachers, im Gespräch über sozialistische Ideale, Nationalstolz, Kubakonzerte und verschwundene Gitarristen

Interview MICHAEL TSCHERNEK

taz: Ich möchte Ihnen zu Beginn unseres Gesprächs einfach nur drei Namen nennen, und Sie sagen spontan, was Ihnen dazu einfällt. Fangen wir an mit James Dean.

James Dean Bradfield: (lacht) Der Fluch meines Lebens. Diesen Namen hat mein Vater zu verantworten. Ich wünschte, er wäre ein Clint-Eastwood-Fan gewesen.

Zweitens: Dylan Thomas?

Der erste Poet, von dem ich etwas gelesen habe. Danach habe ich verstanden, dass Gedichte nicht langweilig sind.

Karl Marx?

Wahrscheinlich der Grund dafür, dass ich vor meinem zwanzigsten Lebensjahr keine Freundin hatte.

Würden Sie sich heute noch als Marxisten bezeichnen?

Ich hänge an altmodischen Prinzipien des Sozialismus – wie beispielsweise an der Überzeugung, dass Dinge wie Wasser, Kohle, Öl und Elektrizität im Eigentum des Volkes stehen sollten. Mit diesen Dingen wird inzwischen im privaten Sektor unglaublich viel Geld gescheffelt. Wer ist bloß auf die Idee gekommen, das gesamte Wasser in Großbritannien in die Hände von nur vier oder fünf privaten Gesellschaften zu legen? Früher ist das gesamte Geld, das damit gemacht wurde, zurück zu den Wasserwerken, in die Krankenhäuser oder die staatlichen Gesellschaften geflossen.

„Classic“ Labour dürfte Ihnen dann wahrscheinlich näher sein als New Labour, oder?

Tony Blair hat immerhin für die Dezentralisierung, für Regionalparlamente in Schottland und Wales gesorgt, das rechne ich ihm hoch an. Manche Leute behaupten, dass Tony Blair im Grunde ein William Hague mit Maske sei. Das ist absoluter Blödsinn. Hätte sich William Hague etwa für die Dezentralisierung stark gemacht? Hätte er als Tory den Friedensprozess in Nordirland aufrechterhalten? Niemals, er hätte Nordirland den Unionisten überlassen. Leute, die Blair und Hague in einen Topf werfen wollen, haben sich nicht wirklich Gedanken gemacht. Dieses Problem wollten wir auch mit dem Titel unseres neuen Albums ansprechen: „Know Your Enemy“. Wir wenden uns gegen solche Phrasen, die aus politischer Selbstgefälligkeit entstehen.

Wie erklären Sie sich bei diesem Anspruch den Erfolg der Manic Street Preachers? Nicht alle Hörer dürften auf Ihrer politischen Wellenlänge liegen.

Es geht bei uns ja nicht ausschließlich um politische Inhalte: Von den sechzehn Songs des neuen Albums haben vielleicht acht oder neun eine politische Aussage – und ich bin mir keineswegs sicher, dass die überhaupt ankommen. Es ist unwahrscheinlich, dass sich alle unsere Hörer darauf einlassen.

Ich sehe uns da in gewisser Verwandtschaft zu The Clash. Die haben sich ebenfalls daran abgearbeitet, ihre politischen Botschaften rüberzubringen, und waren gleichzeitig eine extrem erfolgreiche Rockband. Natürlich liegt darin ein Widerspruch.

Wie gehen Sie damit um?

Man muss ihn akzeptieren. Das Problem taucht doch immer wieder auf. Picasso etwa lebte schon vor dem Zweiten Weltkrieg in unglaublichem Luxus. Warum sollte gerade er in der Lage gewesen sein, all das Leid und all die Qualen der Bombardierung von Guernica zu verstehen und zu interpretieren?

Das Erscheinen Ihres neuen Albums haben die Manic Street Preachers mit einem Konzert im Karl-Marx-Theater von Havanna, auf Kuba, gefeiert. Wie kam es dazu?

Das ist eher einem Zufall zu verdanken. Ein Freund hatte uns darauf aufmerksam gemacht, dass es in den Texten unseres neuen Albums mehrere Kuba-Bezüge gäbe, was uns selbst gar nicht bewusst gewesen war. So kam die Idee auf, den ersten Gig in Havanna zu geben.

Kennt man die Manic Street Preachers überhaupt auf Kuba?

Kaum. So um Weihnachten haben sie das Millenniums-Konzert, das wir in Cardiff gegeben haben, ein paar Mal im kubanischen Fernsehen gezeigt. Aber ich kann nicht sagen, welchen Effekt diese Ausstrahlung hatte.

Mit dem Auftritt haben Sie die Tür zu den USA womöglich endgültig zugeschlagen.

Das kann sein. Wenn wir irgendwann mal wieder in die USA wollen und das Arbeitsvisum aus Kuba im Pass präsentieren, werfen sie uns wahrscheinlich raus. Dann haben wir wenigstens die perfekte Entschuldigung für unsere geringen Verkaufszahlen in den USA: Dann sind wir politische Flüchtlinge (lacht).

Wie kommt es überhaupt, dass die Manic Street Preachers in den USA kaum wahrgenommen werden, während sie in Europa, vor allem in England, längst Erfolge feiern?

Wir hatten viel Pech. Kurz vor unserer US-Tour zum Album „Holy Bible“ ist unser Gitarrist Richey auf mysteriöse Weise verschwunden. Da mussten wir natürlich absagen. Ein anderes Mal haben wir die Tour von Oasis in Amerika begleitet, die von denen mittendrin abgebrochen wurde, weil sie kurz vor der Trennung standen. Und beim letzten Mal mussten wir ein paar Auftritte absagen, weil ich meine Stimme verloren hatte. Ich hätte nichts dagegen, dort Erfolg zu haben. Aber wir werden keine besondere Anstrengung mehr unternehmen. Wir sind jetzt dreißig. Wenn wir uns den amerikanischen Markt heute ernsthaft vornehmen würden, dann würden wir daran vermutlich zu Grunde gehen. Das würde zu hohe Erwartungen schüren, zu viel Arbeit verlangen und zu viel Alkohol.

Manche der neuen Songs klingen wie von Ihren früheren aggressiven Platten. Wollten Sie sich bewusst vom eingängigen Stil des letzten Albums „This Is My Truth“ lösen?

Wir hatten am Ende unserer letzten Tour den Eindruck, dass „This Is My Truth“ einfach zu konstruiert geraten war: Wir hatten uns zu viele Gedanken bei der Produktion gemacht. Also haben wir ein paar Regeln vor den Aufnahmen zu „Know Your Enemy“ aufgestellt, um nicht noch einmal in diese Falle zu treten. Regel Nummer eins: Ohne vorangehende Proben sofort ins Studio gehen. Die zweite Regel verlangte, diesmal völlig auf Streicher zu verzichten. An diese Regeln haben wir uns gehalten.

Worum geht es im Song „Miss Europa Disco Dancer“?

Das ist eine Kritik an gewissen kulturpolitischen Trends. TV- Bosse wollen offenbar noch mehr Geld verdienen und höhere Einschaltquoten erzielen, indem sie Schauspieler und Drehbuchschreiber entlassen und, wie in den letzten zwei Jahren in England, nur noch Sendungen wie „Big Brother“ oder „Ibiza Uncovered“ produzieren. Da brauchen sie nur noch Leute in eine Villa auf Ibiza zu stecken und sie beim Trinken, Drogennehmen und Ficken zu filmen. Für diesen Unterhaltungsabfall braucht man kein Gehirn mehr.

Und wer ist oder war Mr. Robeson aus eurem Song „Let Robeson Sing“?

Paul Robeson war ein afroamerikanischer Sänger und Schauspieler, aber auch Bürgerrechtler und Kommunist in den Vierzigerjahren und später. Er ist in Russland aufgetreten und hat beispielsweise auch mit den walisischen Bergleuten gesungen. Als er in die USA zurückkam, konnte er nirgendwo Anschluss finden: Nicht bei den schwarzen Bürgerrechtlern, die sich von den Kommunisten distanzierten, und in der damaligen weißen Welt schon gar nicht. Er konnte auch nicht mehr auf Reisen gehen, da man ihm den Pass entzogen hatte. Die CIA hat versucht, sein Leben zu zerstören – was ihr auch gelungen ist. Er ist in den Siebzigerjahren gestorben. Dieser Song ist unser Tribute-Song an ihn.

Verstehen Sie sich denn eher als walisische oder eher als britische Band?

Als eine europäische Band.

Was denken Sie über Leute, die bei ihren Konzerten walisische Flaggen schwenken?

Damit habe ich kein Problem. Ich denke nicht, dass sich deshalb plötzlich 3,5 Millionen Menschen einer rechtsgerichteten Bewegung anschließen. Die Waliser sind über viele Jahre von den Engländern unterjocht worden, sodass die Leute nur noch zu ihrer Identität finden, wenn sie etwas Stolz für ihre Flagge empfinden, auf der eine ausgestorbene mythische Kreatur zu sehen ist. Ich sehe keinen Grund, deswegen in Panik zu geraten. Die Waliser stehen nicht im Geringsten unter dem Verdacht, rassistisch oder rechtslastig zu sein. Waliser wählen beständig Labour.

Den Stereophonics wurde in der britischen Musikpresse aufgrund walisischer Fahnenfreunde in ihrem Publikum ein übersteigerter Nationalismus vorgeworfen.

Ja, das war im NME. Und das war nicht fair nach all den Jahren, wo man bei Madness- oder The-Smiths-Konzerten die St.-George-Flagge sehen konnte. Es hat sich auch niemand über den exzessiven Gebrauch des Union Jacks in den Jahrzehnten der Mod-Bewegung beklagt. Aber wenn dann bei einem walisischen Konzert ein paar Zuschauer Fahnen schwenken, dann spielen alle verrückt. Das ist einfach so ein englischer Verschwörungstheorie-Blödsinn.

Gibt es denn so etwas wie eine eigene walisische Rock-Szene?

Das fällt jetzt nur so sehr auf, da es früher kaum bekannte Bands aus Wales gab. Vor gut zehn Jahren gab es nur The Alarm. Später sind wir dazugekommen, und über vier, fünf Jahre waren wir allein auf weiter Flur. Doch dann tauchten plötzlich zahllose neue Bands aus Wales auf: Super Furry Animals, Catatonia, Stereophonics, Gorky’s Zygotic Mynci . . . Das hat sich aber einfach zufällig ergeben. Ich würde das nicht als Szene bezeichnen.

Wohnen Sie noch in Wales?

Nicky und Sean wohnen in Wales. Ich pendle zwischen London und Cardiff.

Einen Namen haben wir bei der Aufzählung am Anfang ausgelassen: Den ihres früheren Gitarristen Richey James beziehungsweise Richey Edwards. Wie heißt er eigentlich wirklich?

Richard James Edwards. Er mochte einfach den Klang von Richey James. Das erinnerte ihn an Rusty James, die Figur aus dem Film „Rumble Fish“.

Er hat im Februar 1995 ein Londoner Hotel verlassen und ist seitdem nicht mehr gesehen worden. Wie empfinden Sie heute darüber?

Mit jedem Album, das wir ohne ihn veröffentlichen, wird es merkwürdiger. Je länger er verschwunden ist, desto weiter entfernt sollte diese Sache für uns sein. Aber wir vermissen ihn noch immer – auch wenn man inzwischen nur noch ein Bild aus dem Gedächtnis abruft. Das ist eine dieser bittersüßen Ironien.

Was ist denn die zurzeit wahrscheinlichste Theorie über sein Verschwinden?

Das weiß niemand. Es ist verwirrender als je zuvor. Vor zwei Jahren wurde er innerhalb von zwei Wochen angeblich in Ägypten, Spanien und Indien gesehen. Das ist doch Blödsinn, dafür hätte er einen Privatjet benötigt. Inzwischen gibt es derartige Gerüchte auch nicht mehr.