Potenz für die Liebeskultur

■ „Sexualpädagogische Visionen“: PädagogInnen, PsychologInnen und SexualwissenschaftlerInnen brüteten an der Bremer Uni neue Strategien aus

„Komm mal her, mein Sohn, ich muss dir was erklären. Es gibt da nämlich so einen kleinen Unterschied zwischen Männern und Frauen ...“ Kaum ein Teenager bekommt heutzutage noch solche Sätze zu hören. Das obligatorische Aufklärungsgespräch haben längst die „Bravo“ und das Fernsehen übernommen. „Die Familie als Institution bildet sich um“, stellt Uwe Sielert, Vorsitzender der Gesellschaft für Sexualpädagogik (GSP), fest. „Die Rollenzuschreibung zwischen Jungen und Mädchen hat sich geändert, und darüber herrscht große Unsicherheit unter den Jugendlichen.“

Gerade in den Lehrplänen liegt sexualpädagogisch gesehen noch einiges im Argen. Eine Herausforderung für PädagogInnen, PsychologInnen und ErzieherInnen. Das dachten sich auch die Vorstandsmitglieder der Gesellschaft für Sexualpädagogik und veranstalteten an der Bremer Uni eine Tagung zum Thema „Sexualpädagogische Visionen“.

Fachreferenten informierten zur „Zukunft der Sexualpädagogik“, zu „postmodernen Tendenzen im ganz normalen Chaos der Liebe“. Die TeilnehmerInnen diskutierten pikanteThemen, wie zum Beispiel das Recht auf Sexualität geistig Behinderter, Cyberflirt und Erotikchat oder eben Lesben und Schwule in Leben und Schule. Stefan Timmermanns, Geschäftsführer der GSP, stellte sein Forschungsprojekt zum Thema schwul-lesbische Aufklärung in Schulen vor.

„Diese ganze Aufklärung nützt aber nichts, wenn die Lehrer sich verweigern oder sogar gegenarbeiten“, so Uwe Sielert. Petra Bruns-Bachmann, ebenfalls im GSP-Vorstand, weiß sogar von Fällen, in denen Schüler aufgrund ihrer sexuellen Neigungen im Religionsunterricht diskriminiert werden.

Sielert sieht heutige die Liebeskultur tief in der Krise stecken: „Nackte Leiber überall, Lustzwang, ausgereizte Sexualitätsvarianten, Verpackung und Vermarktung von Liebe. Das Establishment hat die Lust, die Gier, die Provokation als Mittel des Selbsterhalts, der Befriedigung entdeckt.“ Zwar fallen mit der neuen Offenheit auch engstirnige Ansichten wie „Einmal schwul, immer schwul – beziehungsweise einmal hetero, immer hetero“ weg, trotzdem sei „schwule Sau“ immer noch ein Schimpfwort, wie Petra Bruns-Bachman bestätigt. Das Leben werde bunter, es gebe mehr Freiheiten, aber auch gleichzeitig mehr Fallen.

Die Tagungsteilnehmer waren sich einig: Es müssten Qualitätsstandards entwickelt werden, eine Art Gütesiegel für Sexualpädagogen. Die befänden sich derzeit noch in einer schwierigen Identitätskrise. Wer darf sich so nennen und wer nicht? Welcher Unterricht, welche Beratung oder Betreuung ist pädagogisch wertvoll und welche nicht?

Daneben sorgten auch ganz grundlegende Fragen für Unsicherheit. So wurde diskutiert, ob jegliche Form von Erziehung überhaupt angebracht sei, bedeute Erziehung doch nur eine fragwürdige Machtausübung auf andere. Die Frage wurde allerdings später umformuliert. Entscheidend war nicht mehr die Frage, ob man erziehen darf, sondern wie man erziehen sollte. In der schulischen Erziehung dürfe sich die Sexualpädagogik nicht auf den Biologieunterricht beschränken, erklärte Uwe Sielert. Sie müsse fächerübergreifend auch ihren Platz im Religions- oder Deutschunterricht finden. Überhaupt sollte „mehr Potenz in den Bereich der Liebeskultur gesteckt werden, nicht nur in Dinge wie Telekommunikation“.

Susanne Polig