Die Lücke im Leben

Als Kind missbraucht, als Erwachsene Pech mit den Männern. Nun sucht Maria S. per Agentur ihre Tochter, die sie vor 31 Jahren zur Adoption freigab

von BARBARA BOLLWAHN
DE PAEZ CASANOVA

Maria S. redet wie ein Wasserfall. In einer knappen Stunde erzählt sie vom frühen Tod der Mutter, vom jahrelangen sexuellen Missbrauch durch den Vater, dem tatenlosen Zuschauen der Stiefmütter, dem Schrecken beim ersten Freund – „Das kennste doch alles schon“ –, von ihren beiden Ehemännern, die sich mehr um den Biervorrat als um die Kinder kümmerten. Ein Strudel an Erlebnissen, dass einem schwindlig wird. Es ist ein Leben in den Berliner Bezirken Prenzlauer Berg und Marzahn, in dem ihr nichts geschenkt wurde. Aber auch ein Leben, von dem sie noch etwas haben will. Jetzt, mit 55.

Maria S., eine resolute Frau von kleiner Statur, redet so viel, weil sie ihre Sprache verloren hat. So sagt sie es nicht, aber so hat sie es in einem Gedicht gefunden mit dem Titel „Ich weiß nicht, wie mein Selbst aussieht“, das sie oft gelesen hat. Dort heißt es: „Ich rede so viel, weil ich meine Sprache verloren habe. Ich glaube, wenn ich meine Gefühle wiedergefunden habe, finde ich auch meine Sprache. Dann brauche ich nicht mehr so viel reden.“ Über ein Thema fällt es ihr richtig schwer zu reden: die Tochter, die sie hat und die sie doch nicht hat. Ein Kind, das sie vor 31 Jahren zur Adoption gab.

Maria S. heiratete mit 25 Jahren. Einen Maler, den sie mit 15 kennen gelernt hatte. Für ihn sprach: „Es war der erste Mann, der mich wie einen erwachsenen Menschen behandelte.“ Obwohl er keine Kinder wollte, bekamen sie einen Sohn und eine Tochter. Er war zwar kein schlechter Vater, aber mehr als der Familie war er dem Alkohol zugetan. Klaglos nahm Maria S. hin, dass sie kaputte Haushaltsgeräte aus eigener Tasche ersetzen musste und bescheidene Urlaubsreisen trotz getrennter Kassen nicht in Frage kamen, weil ihren Mann die „Nebenkosten“ abschreckten. Sie blieb bei ihm, weil er der Vater der Kinder war.

Aber irgendwann trat ein, was Maria S. schon lange befürchtet hatte: dass sie sich verlieben könnte. „Ich sagte ihm immer, ich habe so viel Angst, ich könnte mich verlieben, wenn ich beim Fleischer stehe oder so.“ Ihr Mann hatte sie zwar immer beruhigt: „Wenn das passiert, finden wir schon eine Regelung.“ Doch als sie sich wirklich in einen anderen verguckte und nachts mit ihrem Hochzeitsfoto in der Hand heulend auf dem Sofa saß, weil sie glaubte, „den Mann fürs Leben“ gefunden zu haben, erlebte sie ihr blaues Wunder.

Wenige Wochen später war sie schwanger – von der großen Liebe. Ihr Mann fand das zwar nicht so schlimm, doch dessen Vorstellung einer „Regelung“ entpuppte sich als brutaler Tauschhandel. Sie bekommt das Kind des andern, lässt sich scheiden und er behält eines der beiden gemeinsamen Kinder. Maria S. glaubte, dieses Kind dann nie wiederzusehen. „Das bewog mich, eine Lösung zu finden“, formuliert sie förmlich und noch heute mit Tränen in den Augen. Sie gab ihre Tochter zur Adoption frei, zerriss das Foto des andern und blieb bei ihrem Mann – wegen der Kinder.

Jahre später ging die Ehe in die Brüche. Maria S. heiratete erneut, einen Polizisten, der, wie sie, noch zwei Kinder haben wollte. „Klar, machen wir, Mausi“, versprach er ihr. Sie bekam eine zweite Tochter und einen zweiten Sohn. Der Rest verlief ähnlich wie zuvor: Hoher Bierkonsum auch beim zweiten Mann und ein Leben, das sie ohne große Unterstützung alleine schmiss. Auch mit den Schuldgefühlen wegen der weggegebenen Tochter blieb sie alleine.

„Ich war unwissend und fühlte mich als Rabenmutter“, sagt Maria S. heute. Auch die Aufgabe ihres geliebten Berufes als Erziehungshilfskraft in einem Kindergarten hat daran nichts geändert – genauso wenig der Wechsel in einen Produktionsbetrieb. Dort hatte sie zwar nicht mehr den ganzen Tag lang Kinder um sich, die sie daran erinnerten. Doch vergessen konnte sie nicht. Als sie einen Nachtjob in einer Kaufhalle annahm, um ihren vier Kindern einen Kindergartenbesuch zu ersparen, glaubte sie, eine besonders gute Mutter zu sein. Doch das Gefühl, dem weggegebenen Kind gar keine Mutter gewesen zu sein, blieb. Am 16. Januar 1987, als die unbekannte Tochter volljährig wurde, war es besonders schlimm: „Bei jedem Klingeln zuckte ich zusammen.“

Jahrelang hat Maria S. keinen Versuch unternommen, Kontakt zu der Tochter aufzunehmen. „Ich dachte, ich habe keine Rechte.“ Ihre vier anderen Kinder, die mittlerweile aus dem Haus sind, wissen erst seit kurzem von ihrer Halbschwester. Die Therapie, die Maria S. wegen des sexuellen Missbrauchs seit vielen Jahren macht, hilft ihr zwar, über das Verhältnis zu ihrem Körper und die Angst vor der Nähe zu Männern zu reden. Doch gegen die Schuldgefühle kommt keine Therapie an.

Maria S. hat nichts von ihrer Tochter. Kein Foto, kein Kleidungsstück, keine Geburtsurkunde. Nur ein Erinnerungsschnipsel: „Ich hab ihr das Fläschen gegeben und das Kind guckte mich an, als prägte es sich mein Gesicht ein.“ Geblieben ist auch ihre Überzeugung, dass die Tochter unmöglich an ihr interessiert sein kann. „Sie kann mich nicht mögen. Ich bin doch die Mutter, die sie verschenkt hat.“

Nach dem Tod ihres Mannes bezog Maria S. eine neue Wohnung, die sie endlich ganz nach ihrem Geschmack einrichten konnte. In der keine Bierbüchsen rumliegen. In der sie nicht mit den Worten empfangen wird: „Mausi, hast du das Klo geputzt?“ Farblich passend zur Couch ziert im Wohnzimmer ein orange- und grünfarbener Dekorstreifen die Wände. In den Regalen und Schränken ein Sammelsurium an Porzellan- und Glasfiguren. Auffällig in der piccobello aufgeräumten Wohnzimmerwelt sind einige alte, schöne Wand- und Taschenuhren und alte Berlin-Radierungen. „Alles Originale“, sagt Maria S. stolz. Im Bücherregel auf dem Flur konkurrieren Werke von Strittmatter, Fontane oder Manfred Krug und Gedichtbände mit der „Benimm-Fibel“ und Kochbüchern. Im Schlafzimmer ein kleiner Sekretär, auf den sie lange gespart habe. „Wenn ich mal ein Buch schreibe“, sagt sie und lacht.

Die viele Zeit, die sie seit der Wegrationalisierung ihrer Stelle als Bürokraft in einer Arztpraxis hat, kann sie nur schwer genießen. Obwohl sie im Moment eigentlich im siebten Himmel schwebt. Maria S. hat sich wieder verliebt. In einen „Pfundskerl“, den sie über eine Anzeige kennen gelernt hat. Aber auch das lässt sie nicht ruhen. „Wenn ich noch eins in meinem Leben machen muss, dann ist es, meiner Tochter zu sagen, dass sie eine ordentliche Mutter hat.“ Als sie im Januar in einem „Klatschblatt“ über die Such-Agentur „Wiedersehen macht Freude“ las, hob sie die Zeitung auf. „Bei dem Wort ‚Adoption‘ läuteten alle Alarmglocken“, erzählt sie. Ihre wenigen Versuche, die Tochter ausfindig zu machen – Standesamt und ein Verein – waren zu zaghaft, als dass sie hätten erfolgreich sein können. Doch bevor sich Maria S. an die Agentur wandte, schob sie die Suche nach einem Cousin aus dem Westteil der Stadt vor, den sie vor 25 Jahren zum letzten Mal sah. Ein Test für die eigentliche Suche.

Der Cousin ist längst gefunden. Nun wartet Maria S. zwischen Hoffen und Bangen auf das Suchergebnis der Agentur. So viel will sie der unbekannten Tochter erzählen und erklären. Sie sagt, dass sie schon zufrieden wäre, einige Lebensdaten zu erfahren. Doch eigentlich will sie auch wissen, ob sie in ihr eigene Wesenszüge entdecken würde. Ihr Traum: „Ich möchte gerne meine zwei anderen Töchter und Söhne an einem Tisch haben und sagen: Das ist eure Schwester.“

Das Schlimmste, das Maria S. passieren könnte, wäre, dass die Tochter ausfindig gemacht wird, aber kein Interesse an einem Treffen hat. Denn sie weiß: „Ich vertrage keine Nackenschläge mehr.“