Vertrauensbildung in Stockholm

Um neuen Streit zwischen den EU-Staaten zu vermeiden, vertagen die 15 Regierungschefs bei ihrem Gipfeltreffen fast alle strittigen Themen. Bei der Frage der Liberalisierung der Energiemärkte unterstützt die Bundesregierung Frankreich

aus Stockholm REINHARD WOLFF

Dem „kalten Taktieren“ von Nizza sei die „warme vertrauensvolle Atmosphäre“ Stockholms gefolgt. So fasste der schwedische Ministerpräsident Göran Persson mit einer gehörigem Portion Eigenlob seine Gastgeberrolle zusammen. Und hatte damit nicht einmal Unrecht. Nach dem Streit um das künftige Stimm-Gewicht der Staaten, die den EU-Gipfel von Nizza letzten Dezember bestimmt hatten, war nun Entspannung angesagt.

Im Unterschied zu Nizza wurde der Ablauf des zweitägigen Treffens auch nicht durch Krawalle gestört. Bis auf ein kleine Sponti-Aktion vor dem Lokal, in dem sich die Regierungschefs am Freitagabend zum Abendessen versammelt hatten, gab es nur einige wohlgeordnete und schwach besuchte Protestkundgebungen von EU-GegnerInnen.

Harmonie unter den 15 Staats- und Regierungschefs herrschte jedoch vor allem, weil die strittigen Fragen vertagt wurden. So soll über den Standort der neuen EU-Lebensmittelbehörde auf dem EU-Gipfel im Juni in Göteborg entschieden werden. Soll, denn vielleicht fällt sie auch erst im nächsten Jahr, unter Spaniens Präsidentschaft.

Entgegen den Forderungen der EU-Kommission, die die Liberalisierung von Post- und Energiemarkt für 2005 festschreiben wollten, wurde hierfür kein Zeitpunkt festgelegt. Nachdem Gerhard Schröder unmittelbar vor dem Gipfel Frankreichs Präsidenten Jacques Chirac versprochen hatte, dem Nachbarn bei dieser Frage nicht in den Rücken zu fallen, hatten auch die dritten und vierten Fassungen schwedischer Kompromisspapiere keine Chance. Und auch für die übrigen offenen Fragen in den Bereichen Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik wurde der Staffelstab an Spanien weitergereicht: Zukünftig soll sich jeder Frühjahrsgipfel um die Verwirklichung der Zielsetzung, Europa bis 2010 zu einer führenden Wirtschaftsgroßmacht zu machen, kümmern. Eine Zwischenmarke für das Jahr 2005 wurde allerdings gesetzt: Bis dahin sollen 67 Prozent der männlichen und 57 Prozent der weiblichen EU-Bevölkerung in einem festen Arbeitsverhältnis stehen. Wie dieses Ziel aber konkret erreicht werden soll, darüber schweigt sich das 14-seitige Schlussdokument aus.

Konfliktscheue auch, was die Frage der EU-Landwirtschaftspolitik angeht. Ganze neun Zeilen werden im Abschlusskommuniqué dieser aktuell wohl brennendsten EU-Frage gewidmet. Erst einmal soll so weitergewurstelt werden wie bisher. Auf die umstrittene Frage der Impfung gegen MKS geht das Dokumnet erst gar nicht ein. Umweltfragen fielen in Stockholm sowieso fast ganz unter den Tisch, mit Ausnahme eines gemeinsamen Briefes, den Persson und Kommissionschef Prodi an US-Präsident Bush schickten. In diesem rufen sie zur Einhaltung der Klimaschutzziele von Kyoto auf – ohne freilich die USA direkt zu kritisieren.

In Stockholm kündigte die EU wieder einmal „mehr Engagement“ im Nahostkonflikt an und beauftragte Göran Persson eine Reise nach Nord- und Südkorea zu unternehmen, um den dortigen Aussöhnungsprozess zu unterstützen. Brüssel reagiert damit auf eine Einladung aus Nordkorea, die Persson bereits vor einiger Zeit erhalten hatte. Schon am Freitag waren in Stockholm dem russischen Präsidenten Putin Vorzugskredite der Europäischen Investitionsbank für die Finanzierung von Umweltprojekten auf der Kola-Halbinsel – Beseitigung von Atommüll – und in St. Petersburg – Abwässerreinigung – zugesagt worden.

Ebenso wie Gastgeber Persson bemühte sich Bundeskanzler Schröder den vorherrschenden Eindruck, Stockholm sei ein Misserfolg gewesen, zu verwischen. Es sei im Gegenteil deutlich geworden, dass Europa wirtschaftlich auf gutem Wege sei, betonte Schröder. Im Unterschied zu den USA und Japan sei die EU nun die „Wachstumslokomotive“, daran könnten auch die Kursstürze am Neuen Markt nichts ändern. Für Frankreichs Wunsch, eine Liberalisierung von Staatsmonopolen nicht übers Knie brechen zu wollen, müsse man Verständnis zeigen. Da seien eben erst historische Hürden zu nehmen. Finanzminister Hans Eichel war da etwas offenherziger: „Vor der französischen Präsidentenwahl im kommenden Jahr kann man nicht mit neuen Reformen rechnen.“

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