Der Henker soll warten

von STEFAN SCHAAF

Earl Washington jr., ein geistig Behinderter mit einem Intelligenzquotienten von 69, brach 1983 betrunken in Culpeper, Virginia, in die Wohnung seiner Nachbarin Hazel Weeks ein. Er wollte die Pistole stehlen, die sie, wie er wusste, im Kühlschrank aufbewahrte. Er war damals 22 Jahre alt. Sie überraschte ihn bei dem Einbruch, er schlug sie mit einem Stuhl nieder. Polizisten nahmen ihn kurz darauf fest und verhörten ihn. Dabei gab er an, ein Jahr zuvor die 19-jährige Rebecca Lynn Williams vergewaltigt und vor den Augen ihrer Kinder erstochen zu haben.

Das Geständnis, von keinerlei Indizienbeweisen untermauert, reichte aus, Washington wegen Mordes vor Gericht zu stellen und zum Tode zu verurteilen. Er widerrief sein Geständnis wenig später. Dennoch wäre er 1985 fast hingerichtet worden, da er keinen Anwalt fand, der für ihn einen Revisionsantrag stellen wollte. Acht Jahre später erweckte ein DNA-Test Zweifel an Washingtons Schuld. Im vergangenen Herbst wurde dank verbesserter DNA-Technologie aus diesen Zweifeln Gewissheit. Seit wenigen Wochen ist der ehemalige Todeskandidat wieder auf freiem Fuß.

Ein immer größeres Unbehagen

Fälle wie der von Earl Washington jr., dessen Todesurteil nur wenige Tage vor seinem Hinrichtungstermin ausgesetzt worden war, haben in den USA Unbehagen gegenüber der Todesstrafe wachsen lassen. Bei 86 Insassen der Todestrakte wurde ermittelt, dass sie zu Unrecht verurteilt wurden. Das Moratorium, das George Ryan, der republikanische Gouverneur von Illinois, Anfang 2000 für seinen Staat verkündete, ist bislang der deutlichste Ausdruck für dieses Unbehagen. Mehrere Studien haben ein erschreckendes Ausmaß an Fehlurteilen in Mordprozessen festgestellt. Auch in Virginia: Fünf Häftlinge wurden dort bisher aufgrund von DNA-Untersuchungen entlastet. „Mehr Zweifel an der Todessstrafe als jemals in den vergangenen zehn Jahren“ hat Virginias Senatsmitglied William Mims bei seinen Wählern festgestellt. Mehrere Kommissionen des Bundesstaates untersuchen Prozesse und Urteile in Virginia.

Nach Texas ist Virginia der Staat mit der zweithöchsten Zahl an Hinrichtungen, seit diese 1976 vom Supreme Court, dem obersten Bundesgericht der USA, wieder zugelassen wurden. 1999 wurden dort 14, im vergangenen Jahr 8 Todesurteile vollstreckt.

Der Staat rühmt sich, die Wiege der amerikanischen Republik zu sein: 1607 entstand in Jamestown die erste dauerhafte europäische Kolonie in der Neuen Welt, drei der ersten vier Präsidenten der Vereinigten Staaten, darunter historische Größen wie die Gründerväter George Washington und Thomas Jefferson, stammten aus Virginia. Natürlich waren die altehrwürdigen Pflanzer- und Pferdezüchterdynastien Virginias auch im Bürgerkrieg in der ersten Reihe dabei, auf Seiten der Sklavenhalter versteht sich. Bis heute pflegen ihre Nachkommen die historischen Schauplätze blutiger Schlachten gegen Abraham Lincolns Truppen; noch im vergangenen Jahr feierte Virginia am 15. Januar nicht nur den Geburtstag Martin Luther Kings, sondern auch das Andenken der Südstaaten-Generäle Robert E. Lee und Stonewall Jackson. Und erst vor wenigen Wochen hat das Staatsparlament offiziell sein „Bedauern“ für die Zwangssterilisierungen verkündet, die zwischen 1924 und 1979 an etwa 8.000 armen, ungebildeten, weißen wie afroamerikanischen Bürgern Virginias vorgenommen wurden, um die Zahl Kranker, geistig Behinderter, kurz „sozial ungeeigneter Nachkommen“, zu verringern.

Heute ist der Staat sozial und wirtschaftlich gespalten. Im Norden, an der Grenze zur Bundeshauptstadt Washington, erstreckt sich ein endloses Suburbia für Hunderttausende von Anwälten, Bürokraten und die Beschäftigten im boomenden Hi-Tech-Korridor westlich der Stadt. Etwa 20 Kilometer südlich von Washington weichen die weißen Kragen den blauen Overalls: Ab da ist der Bundesstaat ländlich, gläubig, konservativ. Tabakfarmer, Viehzüchter, Krabbenfischer und Bergleute mischen sich mit den Arbeitern in den Kriegswerften von Norfolk. Sie wählen verlässlich republikanisch – mit Ausnahme zweier demokratischer Inseln: der mehrheitlich afroamerikanischen Staatshauptstadt Richmond und dem liberalen Universitätsstädtchen Charlottesville.

In Richmond tagt im zweitältesten Kapitol des Landes das Parlament von Virginia. Viel scheint es nicht zu beschließen zu geben, denn die Sitzungsperiode dauert in geraden Jahren 60, in ungeraden sogar nur 30 Tage. In diesem Jahr ging es darum, angesichts großer Budgetüberschüsse die Kraftfahrzeugsteuer abzusenken, und darum, das Alter, in dem Jugendliche legal Auto fahren dürfen, von 15 Jahren auf 15 Jahre und 6 Monate zu erhöhen. Und um die Frage, ob Virginias Hinrichtungsmaschinerie als Konsequenz aus dem Fall Earl Washington jr. eingemottet wird

Schuld war daran der Abgeordnete Frank Hargrove sr. aus Richmond, ein nach eigenen Angaben konservativer Repblikaner, dem das Thema Recht und Ordnung am Herzen liegt. Seit 19 Jahren sitzt der 74-Jährige im Parlament, und von „liberals“ will er nach wie vor nichts wissen. 1982 forderte er, zum Tode Verurteilte öffentlich zu hängen, um die vermeintlich abschreckende Wirkung der Strafe zu unterstreichen. Die Leute sollten es mitkriegen, wenn jemand hingerichtet wird, denkt er auch heute noch, aber auch er sagt mittlerweile: „Die Chance, mit der Todesstrafe Fehler zu machen, besteht wirklich.“ Deswegen, und weil er glaubt, dass die Bevölkerung vor Mördern auch geschützt werden kann, indem man die nie wieder aus dem Gefängnis rauslässt – wie es in Virginia seit 1995 gehandhabt wird –, hat er im Staatsparlament ein Gesetz eingebracht, die Todesstrafe in Virginia abzuschaffen. Jetzt ärgert er sich, weil er Beifall von der falschen Seite bekommt und alle möglichen in seinen Augen überdrehten Ideen, Schusswaffenkontrolle zum Beispiel, unterstützen soll. Andererseits erhielt er auch viele Briefe von Wählern, die ihn weiter unterstützen und ihm Respekt für seine Haltung zollen.

Die Praxis der Todesstrafe werfe „einen dunklen Schatten über Virginia“, urteilt die Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union, die im vergangenen Jahr diese Praxis in einem 50-seitigen Report analysierte. In keinem anderen Bundesstaat werden Todesurteile so selten revidiert wie in Virginia. Nirgendwo wird schneller hingerichtet – durchschnittlich fünf Jahre nach der Verurteilung –, nirgendwo ist der Zugang zu qualifizierten Anwälten für die von der Todesstrafe Bedrohten schwieriger. 97 Prozent der in Virginia Verurteilten konnten sich keinen Anwalt leisten und wurden von Pflichtverteidigern vertreten.

Pflichtverteidiger müssen, so verlangt es das Gesetz in Virginia, über ein gewisses Maß an Erfahrung mit Mordverfahren verfügen. Doch die Praxis zeigt, dass das Ausfüllen eines Formulars genügt, damit ein Anwalt in die Liste der möglichen Pflichtverteidiger aufgenommen wird. Überprüft werden die Angaben über die anwaltliche Kompetenz von niemandem. Und Richter sind auch nicht an diese Liste gebunden, etwa jeder fünfte Richter hält sich bei der Ernennung von Pflichtverteidigern nicht an sie. Aus diesen Gründen fehlt vielen Angeklagten angemessener Rechtsbeistand. Oft erfahren die Geschworenen, die über das Strafmaß entscheiden, nicht, dass die Angeklagten geistig behindert, psychisch krank oder in zerrütteten, brutalen Verhältnissen aufgewachsen waren – weil ihre Anwälte sich nie die Mühe machten, das herauszufinden. In Texas gab es Anwälte, die während Mordprozessen einnickten. In Virginia haben wiederholt höhere Instanzen die blamable Vorstellung der Pflichtverteidiger hart kritisiert, weil diese nicht einmal in der Lage waren, die Fristen für Einsprüche zu wahren. Doch der Supreme Court in Washington hat festgelegt, dass ein „Minimum an Kompetenz“ für einen Pflichtverteidiger in Mordverfahren verfassungsgemäß ist – er darf sogar einnicken.

Die kleinstmögliche Reform

Dabei hält Virginia in noch einer Hinsicht einen bedenklichen Rekord: In keinem anderen Bundesstaat wird es Verurteilten so schwer gemacht, nach ihrer Verurteilung neue Beweise für ihre Unschuld vorzulegen. 21 Tage nach dem Urteilsspruch läuft die Frist ab – danach werden keine neuen Belege mehr zugelassen. Nur der Gouverneur kann nach Ablauf der Frist eine Umwandlung der Strafe, nicht jedoch eine Wiederaufnahme des Verfahrens anordnen – was Gouverneur Doug Wilder im Fall Earl Washington jrs. tat.

Das hat der Verbrechensausschuss – so hat man, Volkes Stimme würdigend, in Virginia das Gremium genannt, das andernorts Justizausschuss heißen würde – im Senat von Richmond nun geändert. Beweise, die mittels genetischer oder anderer biologischer Untersuchungsmethoden zustande kamen, können nun auch später noch von Todeskandidaten angeführt werden. Ein Moratorium bei Exekutionen lehnte die „crime commission“ aber ebenso ab wie Senator Hargroves Antrag, die Todesstrafe in Virginia durch lebenslängliche Inhaftierung zu ersetzen. Das gesamte Parlament konnte so nicht einmal darüber diskutieren. Todesstrafengegner sind enttäuscht: Das ist die kleinste denkbare Reform in einer als fragwürdig erkannten Hinrichtungspraxis. So schnell ändern die Dinge sich nicht in dem Staat, der immerhin die Wiege der Republik ist.