bücher für randgruppen
: Was ein höflicher Paparazzo im Bus erleben kann

Stockfleckige Raritäten

Wie kam es dazu, dass ich kürzlich in einem Bamberger Antiquariat die deutsche Erstübersetzung von Marcel Prousts „Auf den Spuren der verlorenen Zeit“ erwarb? Zwei schöne Bände aus dem Berliner Verlag Die Schmiede von 1926 zum Preis von vierzig Mark, was überaus preiswert und hier wohl der leichten Lädiertheit der Bücher geschuldet ist.

Nun, eines Tages – es ist vielleicht nur ein paar Wochen her – kam ich von einer Reise zurück, die mich nach Hamburg und Frankfurt am Main geführt hatte. Zu später Stunde erreichte der Zug den Berliner Ostbahnhof (es muss so um 22 Uhr gewesen sein). Da ich nur wenig Gepäck bei mir hatte, entschloss ich mich, zur Bushaltestelle zu gehen, die auf der Rückseite des Bahnhofs gelegen ist. Von dort aus fährt die Linie 140 direkt bis vor meine Haustür. Ich setzte mich in das mit gleißendem Licht ausgestattete Wartehäuschen und kramte in meiner Tasche, um in Carl Vogts „Nord-Fahrt entlang der Norwegischen Küste, nach dem Nordkap, den Inseln Jan Mayen und Island auf dem Schooner Joachim Hinrich unternommen während der Monate Mai bis Oktober 1861 von Dr. Georg Berna in Begleitung von C. Vogt, H. Hasselhorst, A.Greßly und A. Herzen“ zu blättern. Das Buch hatte ich für meine Kollektion deutschsprachiger Bücher über Island bei einer Auktion in Hamburg ersteigert und erfreute mich der stockfleckigen Rarität, die ursprünglich Bestand einer lettischen Bibliothek gewesen war (es befinden sich darin Stempel mit der Aufschrift „Biblioteka Latvijas Valsts“).

Plötzlich entwickelte sich ein Gespräch mit einer älteren Dame, die die ganze Zeit neben mir gesessen hatte und die ich bisher kaum wahrgenommen hatte. „Das ist aber ein schönes Buch. Wo haben Sie das her?“ Sie erzählte mir, dass sie leider noch nie in Island gewesen sei. Irgendwann führte das Gespräch auf ihren verstorbenen Mann und ich fragte, was er denn gemacht habe. „Mein Mann ist Rudolf Schottlaender.“ Ja, ich muss ehrlich zugeben, dass ich diesen Namen zuvor noch nie gehört hatte, und fragte nach. Sie erzählte mir von seiner Tätigkeit, aber mehr im Allgemeinen, nicht im Speziellen. Zum Beispiel, aus welchen Sprachen er übersetzt hatte oder welche Themen er behandelt hatte, aber nannte keine Buchtitel. „Und die gibt es zu kaufen?“ – „Ja, sicher.“ Neugierig geworden schrieb ich den Namen auf ein Stück Papier und versprach ihr, mich über die Bücher ihres verstorbenen Mannes zu informieren. Falls sie denn doch einmal nach Island führe, wolle ich ihr gern mit Rat und Tat zur Seite stehen, und ich gab ihr meine Adresse. Sie bedankte sich und verschwand in einem Bus, auf dessen Nummer ich nicht geachtet hatte. Im Nachhinein ist mir aufgefallen, dass ich mir doch sehr wenig von ihr gemerkt habe, ich weiß beispielsweise nicht mehr, was sie trug, obgleich wir uns ausführlich unterhalten hatten. Es war jedenfalls ein sehr schönes, freundliches und interessantes Gespräch.

Zu Hause ging ich an meinem Computer und tippte im zvab.com den Namen Rudolf Schottlaender ein. Tatsächlich erschienen über vierzig Buchtitel, unter anderem auch die eingangs erwähnten Bücher von Marcel Proust. Ich hatte mit der Witwe des deutschen Erstübersetzers von Marcel Prousts Werk „Auf den Spuren der verlorenen Zeit“ (in den späteren Übersetzungen „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“) ein Gespräch an einer Bushaltestelle geführt, das mich schließlich zu Marcel Proust geführt hat.

Die Begebenheit schreibe ich aus meiner Erinnerung. Es mögen sich einige Details vielleicht etwas anders abgespielt haben, aber das Geschehen war mir doch noch immer so gegenwärtig, dass es seinen Weg in Tex Rubinowitz’ Internetforum Höfliche Paparazzi finden sollte. Darüber kam ich völlig mit meiner Zeitplanung durcheinander und möchte deshalb ausnahmsweise an dieser Stelle hier kein Buch besprechen. Bei den Höflichen Paparazzi können dezente, beiläufige Erlebnisse mit mehr oder weniger prominenten Persönlichkeiten und Personen der Zeitgeschichte geschildert werden. Es sollten aber höfliche Begegnungen sein, keine groupiesken, keine mit Interviewabsicht und Ähnliche mehr. Schon jetzt gibt es zauberhafte Erzählungen: „Wie ich einmal betrunken auf den Schweinslederhandschuhen von Joseph Beuys einschlief“ von Angie Welz-Rommel – oder jetzt gerade beim Schreiben dieser Zeilen schildert Max Goldt (der von anderen Paparazzi-Teilnehmer ob seiner Prominenz natürlich auch schon selbst ausführlich behandelt wurde), dass er sehr oft die Katzenfrau Angelika Milster herumlaufen sieht. Möglicherweise, so der (ebenfalls prominente) Forumsleiter Tex Rubinowitz, wird später aus den interessantesten Geschichten ein Buch. Ein Buch, das vielleicht gerade entsteht und zu dem auch SIE etwas beitragen könnten: www.hoefliche-paparazzi.de. WOLFGANG MÜLLER