Karneval in Gorleben

Die Castor-Gegner protestieren gegen die Grünen – dabei müssten sie gegen den Kanzler marschieren. So kaschieren die Demonstranten nur ihre eigene Erfolglosigkeit

Die CSU macht vor, wie eine Partei ihre Klientel bedient: markige Sprüche – aber nicht von Ministern

Es ist so weit. Heute entstehen am Bahnhof in Dannenberg die Bilder, die beweisen sollen, dass die Grünen letztlich rückgratlose Gesellen sind. Skrupellose Politiker, die ihre einstigen Weggefährten im Namen des „Atomkonsenses“ von behelmten Polizisten zusammenknüppeln lassen. Da mag Jürgen Trittin noch so viele Gründe für den Castor-Transport nennen. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.

Am Samstag auf der Demonstration in Lüneburg gab es bereits einen Vorgeschmack. Da versuchten örtliche Grüne vergeblich, ihre Parteitransparente hoch zu halten. Andere Demonstranten reißen die grünen Transparente zu Boden, ziehen sie durch den Schmutz. Am Sonntag schwingt sich Parteichefin Claudia Roth in Gorleben gar auf einen Trecker in der „Stunkparade“, doch auch der hochmoralischen Grünen schallen „Verräter“-Rufe entgegen. Darauf haben die übrigen Parteien lange gewartet. Die Entzauberung der Grünen, letzter Teil.

Ein tragischer Moment. Ausgerechnet die Anti-Atom-Initiativen – jene soziale Bewegung, aus der die Grünen stammen – geben nun den Kronzeugen für die These der Anpassung der Grünen. Die BI Lüchow-Dannenberg etwa bezeichnet Umweltminister Trittin in ihren Flugblättern als „Gebrauchtwagenhändler“, der ihnen das „Schrottauto“ Atomkonsens andrehen will.

Aber mit Trittin bekämpfen sie nur ihre eigene Erfolglosigkeit. Der magere Konsens drückt vor allem die Schwäche der Anti-Atom-Bewegung aus, die es nicht schaffte, während der Konsens-Verhandlungen Massenproteste zu organisieren. Erst jetzt demonstrieren sie, wo alles zu spät ist. Das historische Fenster für einen schnellen Ausstieg – die Initiativen und Verbände haben ihn verpasst. Wer zu spät kommt, endet als Karnevalsumzug.

Selbst den Strategen der Bewegung mangelt es überraschend an der Fähigkeit zu differenzieren. „Castoren werden rot-grün. Atommüll bleibt Atommüll.“ So steht es auf einem Greenpeace-Transparent zu lesen. Routiniert wird nun genauso gegen die Grünen protestiert wie zuvor gegen die Union. Trittin, Merkel – alles dasselbe. „Denen da oben“ zu misstrauen ist eines der Gründungsmotive der Bewegung. Das legt man nicht so schnell ab.

Spätestens jetzt zeigt sich, dass die Empörungskultur der Bewegung nirgendwo hinführt. Zwanghaft distanziert man sich von den Grünen. „Verständnis“ erfahren dagegen diejenigen politischen Halbstarken, die ein Büro der Bahn zertrümmern. „Vielfalt der Protestformen“ heißt das im Jargon der Bewegung. Hier wirkt noch mal eine alte Schwäche der Bewegungen, unter der auch die Grünen lange gelitten haben. Der Hang zur selbst gewählten Opferrolle – und die automatische Solidarität mit dem vermeintlich Schwächeren gegen „Die da oben“.

Da ist es egal, dass die Grünen weder den Einstieg in die Atomkraft zu verantworten haben noch die Wiederaufarbeitung in Frankreich oder das Endlager in Gorleben. Die Grünen sind schlicht der falsche Adressat: Eigentlich müsste sich der Protest gegen die Atomindustrie oder den Kanzler richten.

Doch auch die Bewegung spürt, dass am Atomausstieg im Moment nichts mehr zu reißen ist, außer das Signal: „Wir leben noch!“ Und indirekt eine Mahnung, wenigstens den Konsens einzuhalten. So wendet die Bewegung ihre Wut umso schärfer gegen die Grünen, wie gegen ein missratenes Kind.

Wenigstens einer, dem der Protest noch wehtut. Denn vom Netz lassen sich die Anlagen nicht mehr blockieren, seit Zwischenlager an den Kraftwerken entstehen. Der Konsens ist ausgehandelt und das Wahlvolk wenig interessiert. Die Marke Castor, über Jahre zum Symbol für den Ausstieg schlechthin geworden, ist auf ihr ursprüngliches Ziel zurückgeworfen: den Kampf gegen den Standort des einzigen deutschen atomaren Endlagers. Zu mehr reicht es nicht.

Für die Grünen steht dagegen viel mehr auf dem Spiel als der Ausstieg: Es geht um Glaubwürdigkeit, ums Überleben. Und sie haben selbst Schuld an dieser Bredouille: Einen Ausstieg im Dissens hätten die Grünen der Bewegung sicher vermitteln können. Aber einen Konsens, in geheimen Runden ausgekungelt, das war den Atomkraftgegnern nicht beizubringen. Nun versuchte der grüne Parteirat auch noch, den Sinn von Castor-Blockaden in Abrede zu stellen – die wichtigste Protestform der Antiatombewegung. Größer könnte die Entfremdung kaum sein.

Natürlich können die Grünen den Wunsch nach Sofortausstieg nicht erfüllen. Doch müssen sie signalisieren, dass sie ihn ernst nehmen. Wenigstens aussprechen, was sich Bewegung, Stammwähler und grüne Basis wünschen – das sollten sie.

In Gorleben versammelt sich so etwas wie ein grüner Stammtisch. Und die Grünen täten gut daran, wie die Volksparteien ihre Klientel zu pflegen. Die CSU zeigt, wie das funktioniert. Dort bedienen einige Politiker mit markigen Sprüchen stets die Stammtische. Dann meldet sich Stoiber zu Wort, in konziliantem Ton, glättet ein wenig die Wogen, stellt sich aber inhaltlich voll dahinter. Ganz anders die Grünen: Bei ihnen regiert das Primat der politischen Berechenbarkeit – die gesamte Bundeselite leidet unter einer einzigen Fünf-Mark-Neurose. Jeder Politiker, der sich jenseits der Kompromisse mit dem Kanzler zu positionieren versucht, wird zurückgepfiffen.

Im Prinzip versuchte Trittin mit seinem Skinhead-Satz über Laurenz Meyer, den grünen Stammtisch zu bedienen. Nur machte er zwei dicke Fehler: Erstens beleidigte er den CDU-Generalsekretär persönlich, was automatisch in die Defensive drängt. Zweitens hat Trittin ein zu hohes Amt für solche Manöver. Doch dosierte Ausfälle dieser Art sind wichtig für die Kernwähler – und die Motivation der eigenen Basis. Die Volksparteien tun das regelmäßig. Für gewöhnlich ist das Rasseln Aufgabe des Generalsekretärs oder eines Landesministers.

Die Bewegung ahnt es selbst: Der Konsens ist endgültig ausgehandelt und das Wahlvolk wenig interessiert

Zwar mögen die Wählerschichten links von den Grünen weit weniger ergiebig sein als die in der politischen Mitte. Doch auch dorthin hat man keine Ausstrahlung mehr, wenn man nicht mit seinen Ursprüngen im Reinen ist. Ohne ein Mindestmaß an Traditionspflege verlieren die Grünen auch ihre Kontur in der öffentlichen Debatte – und damit letztendlich Spielräume in der praktischen Politik.

Was bleibt? Wenn die Grünen nicht mehr regieren, werden sie froh sein, an den Widerstand in Gorleben anknüpfen zu können. Wenn es dagegen in die heiße Phase der Endlagerdebatte geht, werden die Blockierer froh sein, noch Grüne in der Regierung vorzufinden. Anders wird es schwer, ein Endlager zu verhindern. Grüne und Bewegung könnten einander gut gebrauchen.

Als grüne Parteimitglieder „mit Bauchschmerzen“ vor einem Dreivierteljahr dem Atomkonsens zustimmten, erklärte die frisch gewählte Parteichefin Künast: „Es hindert uns nichts daran, weiter Druck zu machen für einen schnelleren Ausstieg.“ Falsch. Die Bewegung hindert sie daran – mit freundlicher Unterstützung der Grünen selbst.

MATTHIAS URBACH