Heroen der Selbstzerstörung

DAS SCHLAGLOCH
von KERSTIN DECKER

Das Liberale ist Konservatismus ohne jeden tragischen Sinn. Völlig ideologisch. Und weltläufig

Mein Verhältnis zu Großrechnern war immer einseitig. So zweckrational. Ich bereue das aufrichtig. Seit letztem Freitag ist alles anders. Wie klaglos setzte der Mir-Bordcomputer seinen eigenen Untergang ins Werk! Ohne Fehler. Fast alle Selbstmörder machen Fehler ganz zuletzt. Er nicht. Nicht jetzt. Sonst ja immer. Aber eben jetzt nicht. Ich hätte ihm das nicht zugetraut. Schließlich war da Hal 9000, Kubricks Bordcomputer aus der „Odyssee im Weltraum“. Die ganzen eingeweckten Astronauten einfach vom Netz nehmen, nur um selber durchzukommen. – So sind sie, die Rechner dachte ich, gnadenlos berechnend. Liegt in ihrer Natur. Und nun das. Wir kennen diese Heroen der Selbstzerstörung. Es sind die eigentlich tragischen Charaktere.

Das unterscheidet den Mir-Bordcomputer von Friedrich Merz. Beide sind Konservative. Denn Untergehen ist eine grundsätzlich konservative Tätigkeit. So ein seltsames „Zurück!“ liegt darin.

Schon darum sahen die Konservativen allzeit Untergänge, wo Fortschrittliche nur Aufgänge erblicken. Das ist ein Grunddissens. Daran erkennt man auch die spezifische Überlegenheit der Konservativen. Denn natürlich ist jenes Denken viel vollständiger, dass das gerade erst Aufgegangene schon wieder untergehen sieht. Revolutionen zum Beispiel. Anders gesagt: Mit dem Begriff des Konservativen verbindet man auch die Vorstellung des Weisen.

Merz. Meyer. Merkel.

Aber wir wollen jetzt trotzdem keinen Fehler machen, so wie gerade eben die Süddeutsche Zeitung. „In Westerwellentälern“ untertitelte sie einen Artikel über die „dümmste Debatte der Saison“. Bloß weil Westerwelle einen vermeintlich meyer-merzförmigen Satz gesagt hat. Er sagte: „I’m proud to be a German.“ Dabei ist der Satz kein bisschen merzförmig. Denn „I’m proud to be a German“ ist ein kongenial liberaler Satz. Das Liberale ist Konservatismus ohne jeden tragischen Sinn. Völlig unideologisch. Und weltläufig, spielerisch wie der Markt. Genau wie der Rau-Satz: „Man kann nicht stolz sein auf etwas, was man selbst gar nicht zustandegebracht hat ...“ doch gleich in der ersten Hälfte irrsinnig sozialdemokratisch klingt.

Woran wir erkennen, das auch die dümmste Debatte der Saison deutsche Parteien zu sich selber finden lässt. Und nicht nur sie, auch die Bild-Leser. 14.684 haben an einem einzigen Tag ihre Zeitung angerufen, um ihr mitzuteilen, warum sie auf Deutschland stolz sind? Nein, nie mehr werden wir fragen: Wozu brauchen wir eigentlich die FDP? Wir wissen es jetzt.

We are proud to have a western wave.

Andererseits: Wenn eine originäre FDP-Äußerung als gelungenes Schlusswort einer Debatte gelten darf, hat sie dann vielleicht noch gar nicht angefangen? Wahrscheinlich gehört sie nur auf eine ganz andere Ebene. Nicht auf die politische. – Auch geht es nicht um Stolz, sondern um ein viel passiveres Vermögen. Um Liebe? Um jene irrationalen Momente wohl, ohne die es keine wirklichen Bindungen gibt. Es geht um das an unserer Identität, was wir nicht selber gemacht haben und was uns doch ausmacht. Nehmen wir nur das Denken.

Ohne ein Moment des Irrationalen, des nicht vollends Rationalisierbaren, mit dem es umgeht, wird es nicht zum Denken. Was für ein hoch konservatives Thema! Aber politisch ist es nicht. Jedenfalls erst viel, viel später. Oder die Sprache. Die Sprache ist ja nun das Stockkonservativste überhaupt. Wir benutzen tatsächlich noch immer dieselbe wie die Nationalsozialisten und größten Unrechtsstaatler aller deutschen Zeiten? Haben wir uns das eigentlich gut überlegt, so was tagtäglich in den Mund zu nehmen? Und angefüllt ist sie mit irrationalen Beständen.

Sprache ist überhaupt bald das Einzige, was wir noch nicht selbst gemacht haben. Nein, stimmt nicht ganz. Schließlich gab es die Rechtschreibreform. Ich habe lange nach einer Erklärung für diesen Akt der Barbarei gesucht, aber jetzt ist alles klar. Ihre Schöpfer wollten einen Abstand zwischen uns und die Sprache legen. Sozusagen einen Bewusstseinsabstand.

Betrachten wir nur die Wortgruppe „hier zu Lande“. „Hierzulande“ dagegen – spüren wir da nicht gleich so einen unguten Unterton von Selbstverständlichkeit, von Fraglosigkeit, ja gar von Blut-und-Boden? Etwas ganz anderes ist dagegen „hier zu Lande“. Es wirkt bewusstseinserweiternd. Du denkst: zu Lande also. Demnach nicht zu Wasser. Und schon gar nicht in der Luft. Das Land ist zurückgeführt auf seine ursprüngliche weltanschauungsneutrale terrestrisch-physikalische Faktizität. Kein revanchistischer Unterton. Das ist ein Beispiel erfolgreicher Bewältigung unserer sprachlichen Vergangenheit.

Ohne ein Moment des Irrationalen, des nicht vollends Rationalisierbaren, wird Denken nicht zum Denken

Sie hat nur einen Nachteil. Jedes Mal, wenn ich „hier zu Lande“ lese, ist der übrige Teil des Satzes weg. Die wortgruppeninterne Vergangenheitsbewältigung dauert einfach zu lange. Darum lese ich eigentlich nur noch Zeitungen, die nicht „hier zu Lande“ schreiben. Die Zeit zum Beispiel. Oder lieber doch nicht. Jedenfalls nicht diese Woche. Denn diese Woche steht da was drin über die Ostdeutschen, unausdenkbar, wenn alle das mitkriegen. Nun gut, die 14.684 Bild-Anrufer schon mal abgezogen, aber trotzdem. Kurz zusammengefasst steht da, dass das mit Ostdeutschland gar nichts werden konnte, weil es sich bei der DDR um das neben Weißrussland, Bulgarien und der Ostukraine am meisten sowjetisierte Land der „sozialistischen Staatengemeinschaft“ handelte mit dem größten Anteil an Sowjetmenschen. Sowjetmenschen seien „atomisierte Menschen ohne Geschichtsbewusstsein und herkömmliche Wertesysteme, ehrfürchtig den Staat anbetend, welcher ihr ganzes Leben organisiert ...“

Ein Pole hat das geschrieben, und Fritz J. Raddatz ergänzt, dass in der DDR „Auseinandertanzen“ verboten, ein Kuss in der Straßenbahn ungehörig und die Lektüre von Kafka strafbar war. – Zuerst hatte ich spontan überlegt, diese Woche besser nicht rauszugehen. Jedenfalls nicht dorthin, wo man damit rechnen muss, einem Zeit-Leser zu begegnen. Natürlich habe ich auch sofort die kritische Selbstprüfung gemacht. Warum trifft mich dieses DDR-Bild so, nur weil es falsch ist? Bin ich etwa stolz auf die DDR? Oder schlimmer, ist das jetzt schon Liebe? – Das Ergebnis war beruhigend, das Rätsel blieb. Das muss sie also sein, diese seltsame Verwurzelung in einem Herkommen, das man sich nicht ausgesucht hat. Wer hätte sich schon die DDR fürs Herkommen ausgesucht?

Natürlich haben es Raddatz und der Pole Jerzy Maćków gar nicht bös gemeint, und man könnte alles erklären. Raddatz ist in den Fünfzigerjahren aus dem Osten weggegangen und bewahrt treulich das Bild von damals. Der Pole wiederum erklärt alles, auch Ostdeutschland, aus der polnischen Geschichte, während die CDU strikt merz-meyerförmig denkt, die FDP immerhin auf Westerwellen surft, wogegen das Schicksal des Bild-Lesers von vornherein klar ist.

Nur der Mir-Bordcomputer, der in seiner Jugend sicher ein völlig durchsowjetisierter Großrechner war, sich dann aber zunehmend jeder Kontrolle entzog, muss zum Schluss was ganz anderes gedacht haben. Selbstzerlegung. Vielleicht geht uns das ja bald allen so.

Autorenhinweis:Kerstin Decker ist Publizistin und lebt im Ostteil Berlins.