Die zarten Ausgeburten der Hitzehölle

■ Weserglas schmückte einst den Zarenhof und ruinierte die Lungen der Kinder in der Produktion. Das Fockemuseum zeigt alle Aspekte rund um Produktionsprozess, Transport und Ästhetik des zerbrechlichen Gutes

Wenn Ausländer heute an etwas typisch Deutsches denken, fällt ihnen oft Bier ein. Auf der Baustelle, vor'm Fernseher, zu Festlichkeiten – der Gerstensaft ist nicht mehr wegzudenken. Das war mal anders. Erst als Glas um 1880 ruhmreich zur Massenware aufstieg, weil seine Herstellung deutlich billiger wurde, verbreitete sich das leicht verderbliche Gebräu im Volk. Aber nicht nur der gesteigerte Bierkonsum hängt mit Glas zusammen.

Im Fockemuseum kann man sich seit Mittwoch genau angucken, was es mit der Glasgeschichte auf sich hat. Die Ausstellung „Weserglas für Übersee“ beleuchtet vor allem den Export über die Weser, aber auch sozialgeschichtliche Aspekte, die mit Herstellung und Verbraucheralltag zusammenlaufen. Etwa 300 gläserne Exponate aus dem 18., 19. und 20. Jahrhundert hat das Westfälische Industriemuseum zusammengestellt, in (Glas!)vitrinen verfrachtet und letztes Jahr erstmals in der Gernheimer Glashütte gezeigt.

Große, grüne, grobe Vorratsbehälter, die „Weserhäfen“ heißen, filigran geschliffene barocke Kelche, dekorative Fischerkugeln, alte Bierflaschen und Prachtpokale sind zu sehen, aber auch die Glasmacherwerkzeugen und der nötige Brennstoff (Holz, Kohle), der zur Herstellung notwendig ist. Begleitend erläutern Tafeln mit historischen Quellentexten, Graphiken und Fotos alles rund um den Stoff aus Sand, Kalk und Pottasche.

Bis auf die berühmte Zerbrechlickeit scheint er nur vorteilhafte Adjektive auf sich zu vereinen: glatt, wasserdicht, feuerfest, durchsichtig oder lichgeschützt (für Bier sehr wichtig), formbar, ziemlich verschleißsicher und natürlich wunderschön. Ewig haltbar sowieso. Nur eben teurer.

Bis in das 20. Jahrhundert hinein wurde in den sogenannten Waldglashütten mit der Pfeife Glas geblasen. „Wald“ deshalb, weil das Glas (unbeabsichtigt) eine grüne Farbe hatte, und weil die Hütten in den Wäldern standen. Die Bäume lieferten das Brennholz um die höllischen Schmelztemperatur von circa 1500 Grad Celsius im Schmelzofen zu erzeugen. War rings um die Hütte alles abgeholzt, zogen die Glasbläser weiter. Ein Fluss durfte nicht weit sein. Denn jedweder Transport artete in auto- und schienenfreien Zeiten in ein Riesenproblem aus. Schiffe eigneten sich für den Warenverkehr noch am besten.

Schon um 1100 erbaute ein Mönch aus dem Kloster Helmarshausen in Wesernähe eine Waldglashütte. Im Laufe der Zeit siedelten sich von Kassel bis zur Nordsee an der Weser viele Werkstätten an, weil von dort der ganze Überseeexport ausging. Nach England, ins reiche Holland, sogar zum russischen Zarenhof. Die Branche boomte und Weserglas war gefragt. Damals arbeiteten schon die Kinder der Glasbläser mit und ruinierten sich mit Hitze, Staub und Zugluft ihre Gesundheit.

Im 18. Jahrhundert wurde das Holz knapp und allmählich kam die ergiebigere Kohle in Mode. Auch ging der Trend um 1850 zu weniger, aber größeren Hütten über. Statt der zwanzig bis dreißig Glasbläser im 18. Jahrhundert schufteten anfangs des 20. Jahrhunderts mehrere hundert Arbeiter im Dreischichtsystem in den industriellen Glasfabriken. Mitte des 19.Jahrhundert konnte eine Glashütte 500.000 Flaschen produzieren, hundert Jahre später waren es zig Millionen. Leider ging in der Massenproduktion die Vielfalt der Glasarbeiten verloren. Typische Schleiftechniken oder Bemalungen, die jedes Stück einzigartig machten, fielen unter den Tisch.

Bis es soweit kam, mussten jedoch erst Maschinen erfunden werden, die die schwere Bläserei übernahmen. „Weserglas für Übersee“ dokumentiert außerdem den Alltag der Glashütten- und Fabrikarbeiter, wie Schmelzöfen funktionieren und warum es heute so wichtig ist, Glas nach Farben zu recyceln.

Maria Hufenreuter

Bis 6. Mai, Führung: 1.4.11.30h, Diavortrag: 14.4. 19.30, Exkursion: 5. Mai ab 10h zur Glashütte Gernheim