Stimmen und Blitze im Gehirn

Es kann fast jeden treffen. Schizophrenie ist relativ häufig. Etwa ein Prozent der Bevölkerung erkrankt im Laufe des Lebens an einer schizophrenen Psychose. Entgegen althergebrachten Vorurteilen ist der Verlauf der Krankheit jedoch oft gutartig

„Schizophrenie ist eine Störung des Denkens,Fühlens und Erlebensder eigenen Person.“

von CLAUDIA BORCHARD-TUCH

Seit Wochen hatte Marcel diese eigenartigen hellen Lichtpunkte gesehen. Sie kamen plötzlich, blitzten für ein paar Sekunden und verschwanden dann ebenso schnell, wie sie gekommen waren. Marcel machte sich wegen dieser Lichtpunkte große Sorgen und ging deshalb zum Arzt. Dieser diagnostizierte eine Migräne und verschrieb ein Kopfschmerzmittel. Marcel wunderte sich ein bisschen über die Diagnose, weil er keine Kopfschmerzen verspürte. Und die Lichtpunkte blieben, obwohl Marcel die Kopfschmerztabletten eifrig schluckte.

Vor kurzem war Marcel 19 Jahre alt geworden. In ein paar Wochen wollte er die Abiturprüfung bestehen. Marcel stand unter ziemlichem Stress, weil er einen besonders guten Notendurchschnitt erreichen wollte. Er konnte kaum noch schlafen. Abends nahm er ein Schlafmittel, und morgens trank er viel Cola und Kaffee, um wach zu werden für die Schule. Obwohl er sich sehr anstrengte, konnte er sich dort kaum noch konzentrieren. Er lernte wie besessen, weil er nur noch sehr schwer etwas behalten konnte. Ständig unterbrachen fremde Stimmen seine Gedankengänge.

Marcel hatte das Gefühl, seine Mitschüler würden seinen Zustand bemerken und heimlich über ihn lachen. Als er merkte, dass er die Schule nicht mehr schaffen würde, verletzte er sich, um sich den Schulbesuch zu ersparen. Die Eltern brachten Marcel in eine psychiatrische Klinik. Dort stellte man die richtige Diagnose: „Akute schizophrene Psychose“. Diese Diagnose war ein Schock für Marcel und seine Familie.

Was sie nicht wussten: Der Verlauf ist entgegen althergebrachten Vorurteilen oft gutartig. Etwa ein Drittel aller Ersterkrankungen heilt folgenlos aus, bei einem weiteren Drittel kommt es nach Abklingen der ersten Krankheitsepisode nach Monaten oder Jahren zu erneuten Krankheitssymptomen. Nur bei einem letzten Drittel ist der Verlauf ungünstig: Die akuten Episoden hinterlassen bleibende und zunehmende Veränderungen der Persönlichkeit, und mit jeder Episode verstärkt sich der Zerfall der Persönlichkeit.

Die Schizophrenie ist relativ häufig – etwa ein Prozent der Bevölkerung erkrankt im Laufe des Lebens an einer schizophrenen Psychose. Meist beginnt die Erkrankung zwischen der Pubertät und dem 40. Lebensjahr. „Schizophrenie“, sagt der an der Psychiatrischen Universitätsklinik Basel arbeitende Professor Asmus Fintzen, „ist eine Störung des Denkens, Fühlens und Erlebens der eigenen Person. Nicht nur medizinischen Laien macht es Mühe, diese Krankheit zu verstehen.“ Bei den Krankheitszeichen lassen sich Plus- und Minussymptome unterscheiden. Halluzinationen und Wahn zählen zu den Plussymptomen – sie bedeuten ein Mehr an Denken und Fühlen. Zur Minussymptomatik zählen Denkstörungen, Antriebsstörungen, Depressionen und sozialer Rückzug.

Die Krankheit verläuft in Wellen. In den akuten psychotischen Phasen stehen Halluzinationen, Wahn und Denkstörungen im Vordergrund: Die Kranken hören Stimmen, die ihr Tun kommentieren oder sich unterhalten, sie glauben, ihre Gedanken würden blockiert, beeinflusst oder abgehört, und sie fühlen sich entmündigt, im Denken und Handeln durch fremde Einflüsse gesteuert, beobachtet, verfolgt und bedroht.

Die Schizophrenie ist die rätselhafteste aller psychischen Störungen, deren Ursachen bis heute nicht vollständig geklärt sind. Aufgrund großer Familien- und Zwillingsstudien nimmt man an, dass bei der Entstehung der Schizophrenie erbliche Faktoren beteiligt sind. Es erkrankt aber nicht jeder Mensch, der die entsprechende Erbanlage hat, an Schizophrenie – er ist nur eher dazu „veranlagt“, die Krankheit zu bekommen.

Vieles deutet darauf hin, dass schizophrene Menschen sensibler gegenüber äußeren und inneren Einflüssen sind. Diese Empfindsamkeit – auch Vulnerabilität genannt – lässt sie viele Dinge besonders intensiv erleben, bewirkt aber auch, dass sie weniger gut mit Stress zurechtkommen: Wenn die Belastungen zu groß werden, kommt es zu einer Art Nervenzusammenbruch.

Bei schizophrenen Störungen ist die Reizübertragung im Nervensystem gestört. Innerhalb des Nervensystems sind so genannte Botenstoffe dafür verantwortlich, dass Informationen weitergeleitet werden. Diese Botenstoffe übertragen an Schaltstellen bestimmter Hirnregionen elektrische Signale von einer Nervenzelle auf eine andere. Sie lösen an so genannten Rezeptoren, also Empfangsstellen der Nerven, eine Weiterleitung der Signale aus.

Bei Patienten mit einer Schizophrenie konnte ein Zuviel des Botenstoffs Dopamin festgestellt werden. Es kommen auch Störungen anderer Botenstoffe vor, deren Bedeutungen für die Erkrankung aber noch nicht ausreichend erforscht sind.

Um das gestörte Gleichgewicht der Überträgerstoffe im Gehirn wieder in Ordnung zu bringen, ist eine medikamentöse Behandlung mit Neuroleptika notwendig. Mussten die Patienten früher im Durchschnitt noch drei Jahre im Krankenhaus verbringen sind es heute – aufgrund der Neuroleptikatherapie – im Durchschnitt nur noch drei Monate.

Neuroleptika sind Substanzen, die dem Schizophrenen helfen, ohne sein Bewusstsein oder seine intellektuellen Fähigkeiten wesentlich zu beeinflussen. Die Patienten gelangen in einen Zustand der inneren Ruhe gegenüber ihrer Umwelt, ihre psychische Erregbarkeit wird gehemmt, die Anspannung vermindert und Angst verringert.

Die besondere Verletzlichkeit bleibt nach Abklingen der akuten Symptome bestehen, und der Betroffene benötigt den Schutz durch Neuroleptika, damit ein erneuter Ausbruch der Erkrankung verhindert wird. Die Rückfallwahrscheinlichkeit innerhalb der ersten beiden Jahre liegt ohne medikamentöse Behandlung bei etwa 85, bei ausreichender Therapie bei 15 Prozent.

Bei einem ersten Auftreten der Krankheit sollte nach Verschwinden der Symptome die Behandlung für mindestens ein bis zwei Jahre fortgesetzt werden. Nach einem Rückfall sollte die Behandlung mindestens fünf Jahre dauern.

Wie alle wirksamen Medikamente haben auch Neuroleptika Nebenwirkungen: Muskelkrämpfe, Zittern, Blutdruckabfall, trockener Mund, Sehstörungen, Müdigkeit und Gewichtszunahme. Besonders unangenehm ist das Parkinsonsyndrom, das sich jedoch nach Absetzen des Neuroleptikums wieder zurückbildet: kleinschrittiger Gang, vornübergebeugte Haltung und mimische Starre. Diese Gruppe von Nebenwirkungen kommt bei den neuen Präparaten, den so genannten atypischen Neuroleptika, jedoch nur noch selten vor.

Während die Wichtigkeit psychosozialer Faktoren für die Entstehung der Schizophrenie umstritten ist, ist sicher, dass der Verlauf der Erkrankung von ihnen beeinflusst wird. Manchmal ist das Eltern-Kind-Verhältnis gestört, zum Beispiel durch ein Übermaß oder einen Mangel an Liebe oder Fürsorge.

Gesichert ist das Konzept der High expressed Emotions: Allzu heftige Gefühlsäußerungen gegenüber dem Kranken beeinflussen den Krankheitsverlauf ungünstig. Die Angehörigen sollten nicht versuchen, das Verhalten des Schizophrenen um jeden Preis kontrollieren zu wollen, sondern sich selbst Grenzen setzen. Immer sollten sie daran denken, dass das Verhalten teilweise krankheitsbedingt ist und nicht vollständig vom Patienten gesteuert werden kann. Rückfallverhütend wirken auch wenige und zielgenaue Kritik und eine optimistische Sicht der Krankheit.

Um mit den Auswirkungen der Krankheit auf das private und berufliche Leben besser fertig zu werden, brauchen die Betroffenen professionelle Unterstützung. Ärzte, Pfleger, Sozialarbeiter, Psychologen und Gestaltungstherapeuten bilden ein festes Bezugssystem, bis der Patient wieder normal in der Gesellschaft „funktionieren“ kann. Rehabilitationsprogramme helfen, schrittweise in eine normale Lebens- und Arbeitssituation zurückzufinden, bieten Beratung und Hilfe in Wohnungsfragen, helfen bei der Arbeitsplatzsuche sowie bei finanziellen Angelegenheiten.

In der Verhaltenstherapie und im Training der sozialen Kompetenz üben Betroffene das Verhalten am Arbeitsplatz und Kontakte mit anderen, zum Beispiel bei Rollenspielen und Lernen am Modell. In psychoedukativen Gruppen lernen Patienten und Angehörige, die Krankheit und ihre Auswirkungen besser zu verstehen und wie sie damit umgehen können.

Marcel verbrachte drei Monate im Krankenhaus. Er wurde dort mit einem neuen, „atypischen“ Neuroleptikum behandelt und lernte gemeinsam mit anderen Patienten, seine Krankheit zu verstehen. Allmählich nahm seine Angst ab. Die Lichtpunkte wurden allmählich immer seltener und verschwanden schließlich ganz. Marcel begann, sich wieder konzentrieren und ungestört denken zu können. Seine Gedanken wurden nicht mehr von fremden Stimmen unterbrochen.

Seit kurzem geht Marcel wieder zur Schule, zunächst nur für zwei Stunden täglich. In den nächsten Wochen soll die Unterrichtszeit langsam gesteigert werden. Allmählich beginnt Marcel zu begreifen, dass er sein Lebenskonzept ändern muss. Verhaltensregel Nummer eins ist, nur das zu tun, was einen Rückfall unwahrscheinlich macht. Denn ein neuer Krankheitsschub wäre das Allerschlimmste, was ihm passieren könnte.