Der Chef als High Potential

Über hoch qualifizierte Führungskräfte, Überflieger und andere Cracks, die Bedeutung von Bodenhaftung, Stallgeruch und Soft Skills für das hochkarätige Chefdasein. Und über den ganz speziellen Kick, zu den Architekten des gerade entstehenden Global Village zu gehören

Interview DOROTHEE WENNER

taz: Wer heute nach den wirklich einflussreichen Chefs sucht, findet „High Potentials“. Verbirgt sich mehr als ein modischer Anglizismus hinter dieser Begriffsverschiebung?

Hans Groffebert: High Potentials sind Leute, die man früher „hoch qualifizierte Führungskräfte“ nannte. Die Verenglischung folgt einem Code, den man für eleganter hält, der darüber hinaus aber auch auf die veränderten Aufgaben von Führungskräften verweist.

Inwiefern?

Das hängt mit der Globalisierung der Wirtschaft und der Internationalisierung der Arbeitsmärkte zusammen. High Potentials findet man ausschließlich in international operierenden Konzernen, etwa bei DaimlerChrysler oder IBM. Tatsächlich aber verbringen diese Leute nur einen Teil ihrer Arbeitszeit in den Mutterhäusern der Konzerne, oft sind sie in der Business-Class von Flugzeugen und den dazugehörigen Lounges zu finden: Heute Auburn Hills, morgen Sindelfingen, übermorgen Tokio. Wenn man von High Potentials spricht, impliziert das natürlich auch die Existenz von Potentials und Low Potentials, die es faktisch auch gibt, doch sind diese Begriffe längst nicht so gebräuchlich.

Wie wird man ein High Potential?

Sagen wir mal so: Werdegänge wie die von Herrn Schrempp, der sich vom Lehrling peu à peu in die Chefetage hochgearbeitet hat, sind undenkbar. Schrempp ist ja auch kein High Potential geworden, Leute wie er gelten eher als „Senior Chef Manager“.

Könnten Sie einen typischen Werdegang skizzieren?

Ein High Potential geht nach der Schule in aller Regel zum Militärdienst, schließlich bekommt man dort die erste Lektion in „Menschenführung“. Dann beginnt er ein Studium der Wirtschaftswissenschaften oder/und Jura an einer angesehenen deutschen Universität. Eine juristische Zusatzqualifikation gilt für Wirtschaftswissenschaftler als fast obligatorisch – wie der virtuose Umgang mit Informationstechnologie. Beim Studium gilt: Nicht zu lange mit dem Auslandsaufenthalt warten! Die London School of Economics etwa hat einen guten Ruf, dort verbringt man vielleicht zwei Semester, dann wird es Zeit für ein mindestens einjähriges Studium oder Praktikum in den USA.

Wo man ganz nebenbei auch noch perfekt Englisch lernt . . .

. . . notfalls auch noch mit Hilfe von Crashkursen, denn das Englisch muss bei Berufsbeginn bereits „verhandlungssicher“ sein. Bei den Auslandssemestern wird darauf geachtet, dass man es dort auch zu irgendeinem Zwischenabschluss bringt. Promotionen dagegen sind nicht so bedeutsam, die braucht man nur, wenn man – salopp gesagt – die Anstellung in einem back office anstrebt. Der zukünftige High Potential dagegen steigt sofort nach dem Diplom bei einem internationalen Konzern ein, der es ihm ermöglicht, sich nach zwei, drei Lehrjahren in Deutschland zu einer der ausländischen Niederlassungen des jeweiligen Konzerns versetzen zu lassen.

Dann ist ein High Potential also mindestens 33, 34 Jahre alt?

25-jährige Überflieger und Cracks, wie man sie aus der IT- oder der Werbebranche kennt, sind in diesen Kreisen tatsächlich so selten wie übrigens auch Personen, die sich aus so genannten kleinen Verhältnissen hochgearbeitet haben. Es sei denn, sie haben die seltene Fähigkeit, den richtigen „Stallgeruch“ anzunehmen.

Jüngst erwartete ein renommiertes Consultingunternehmen neben „exzellenten Leistungen an der Universität“ von seinen Bewerbern einen „ungewöhnlichen Lebenslauf“ in der Stellenausschreibung. Ist damit auch der berühmte „einjährige Studienaufenthalt“ in Italien oder Indonesien gemeint?

Solche Intermezzi kann sich ein High Potential erst erlauben, wenn er die ersten zwei, drei größeren Projekte hinter sich hat. Einem hochkarätigen Manager dagegen sieht man es nach, wenn er als 45-Jähriger mal eine einjährige Auszeit nimmt, um zum Beispiel etwas gegen sein Burn-out zu tun. Aber er sollte sich dann schon etwas wirklich Feines aussuchen: Wenn schon ins Kloster, dann auf keinen Fall nach Ebersbach, sondern mindestens in ein japanisches Zen-Kloster oder gleich zum Dalai Lama.

Aber wie erwirbt ein High Potential dann das, was als „multinationale Teamkompetenz“ bezeichnet wird?

Das gehört zu den permanenten Weiterbildungsmaßnahmen, die für High Potentials zwingend sind. In dieser Position lernt man nie aus. High Potentials bleiben ja Angestellte eines Konzerns, und insofern sorgt der Betrieb dafür, dass sie – natürlich immer im Hinblick auf die nächste Aufgabe oder die nächste Fusion – zusätzliches Wissen erwerben. Das können allgemeine Seminare zu so genannten Soft Skills sein – Präsentationstechniken beispielsweise. Oft aber sind es individuell auf die Person zugeschnittene Angebote.

Zum Beispiel?

Wenn etwa eine Markterweiterung in China geplant ist, gehört zur Vorbereitung der zusätzliche Wissenserwerb, vor allem von Detailkenntnissen über den chinesischen Markt, chinesische Betriebsführung und die politischen Verhältnisse. Und natürlich Sicherheit im Umgang mit kulturellen Gepflogenheiten – das richtige Überreichen von Visitenkarten, landesübliche Ess- und Trinksitten oder das Wissen, dass in Asien auf keinen Fall nach dem Jahresgehalt gefragt werden darf.

Was verdient ein High Potential eigentlich?

Die bringen es nicht selten auf zwölf, fünfzehn Millionen Mark Jahresgehalt . . .

. . . die man doch unmöglich ausgeben kann! Was macht den Reiz einer solchen Beschäftigung aus?

In diesen Kreisen geht es nicht mehr darum, mit „seiner“ Villa, „seiner“ Frau, „seiner“ Jagd zu protzen. Möglicherweise stimmt sogar eher das Gegenteil; man könnte es am Beispiel der Kleidung erklären: Anders als Popstars mit vergleichbarem Einkommen, die ja von Berufs wegen zu einer gewissen Extravaganz verpflichtet sind, kleiden sich High Potentials eher schlicht, geradezu unauffällig, mit dunklem Anzug, hellem Hemd und dezenter Krawatte. Wenn diese Leute Luxus in Anspruch nehmen, dann handelt es sich um Dinge wie die private Nutzung von Firmenflugzeugen oder allgemeiner: jene Infrastruktur, die es ihnen als echten Global Players möglich macht, ihre Termine effektiv auf die Reihe zu kriegen.

Wenn Einkommen nicht der richtige Ansatzpunkt ist, um die Attraktivität einer solchen Position zu verstehen, bleibt doch eigentlich nur die Freude an der Macht?

Ich würde es anders beschreiben wollen. Es ist die enorme Herausforderung, auf einer ganz hohen Ebene etwas mitzugestalten. High Potentials sind sozusagen Architekten des Global Village. Und man darf nicht vergessen: Die Globalisierung ist noch längst nicht abgeschlossen. Derzeit werden Märkte in einem zuvor nie gekannten Ausmaß bewegt, was Auswirkungen auf ganze Regionen und ihre geopolitischen Strukturen hat. DaimlerChrysler beispielsweise beschäftigt über vierhunderttausend Mitarbeiter, dazu kommen im Schnitt jeweils drei Familienangehörige. Allein aus solchen Zahlen ergibt sich eine Riesenverantwortung für Manager, die sich folglich eher darum bemühen, Bodenhaftung zu bewahren. Dabei hilft eine Familie in der Villa daheim, und sei es nur zum Schein. Ja, man darf auf Konferenzen sogar – unter Verweis auf die gestrige Sitzung in São Paulo – ohne jeden Ansehensverlust schwäbeln. Eine emotionale Verwurzelung schützt vor den unerwünschten Nebenwirkungen des Jet-Set-Lebens.

Kommt ein High Potential überhaupt noch mit den Angestellten der unteren Hierarchien in Kontakt?

Das hängt nicht zuletzt von der jeweiligen Persönlichkeit und von der konkreten Aufgabe ab. Manche werden sicher das Gespräch mit einfachen Ingenieuren oder Sekretärinnen als notwendige oder angenehme Selbstverständlichkeit ansehen. In den entscheidenden Sitzungen aber ist der Kontakt zum Personal nur mittelbar, es wird mit den Vertriebsleitern, Chefdesignern, Produktionsleitern oder Personalchefs verhandelt.

 Das Controlling eines laufenden Betriebs ist jedoch nur ein Aspekt der Tätigkeit des High Potential, er muss vor allem die internationalen Märkte im Auge haben. Sein Wissen und der so genannte „Charismamuskel“ müssen ihm dabei helfen, komplexe Entwicklungen zu antizipieren, um richtige Entscheidungen für die zukünftigen Weichenstellungen des eigenen Konzerns treffen zu können. In dieser Hinsicht gilt zum Beispiel Betriebsblindheit als großes Risiko für High Potentials, weswegen man eigentlich nicht länger als fünf, maximal acht Jahre an einer Stelle kleben darf.

Und wie findet ein High Potential dann seine neue Anstellung?

Zum einen handelt es sich bei diesen Spitzenkräften ja um einen relativ überschaubaren Personenkreis; „man kennt sich“ und erfährt entsprechend von Fluktuationen. Da es bei Topmanagern jedoch üblich ist, von einer Branche in die andere zu wechseln, gibt es international operierende Personalvermittlungen. Weil es sicher besser anhört, spricht man dabei inzwischen nicht mehr von „Headhunting“, sondern von „Direct Search“.

Die klassische Bewerbung mit Mappe inklusive Lebenslauf kann man sich in solchen Positionen nicht mehr erlauben.

Mit einer kleinen, feinen Ausnahme: Es gibt Stellenannoncen, die sind so speziell, dass der Betreffende weiß: Ich bin gemeint! Nebenbei bemerkt: Es ist heute eine hohe Kunst, die Stellenausschreibungen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder der Financial Times zu lesen. Beispielsweise schalten viele Konzerne Anzeigen, um den nahen Bankrott zu kaschieren – oder auch nur, um die Konkurrenz in die Irre zu führen.

Gibt es auch Frauen unter den High Potentials?

Es gibt durchaus Frauen in solchen Spitzenpositionen, aber eher in den so genannten Softbereichen wie Personalmanagement. Allerdings lässt sich beobachten, wie derzeit vor allem in der Werbung und im Filmbereich gesellschaftliche Projektionen von solchen Superfrauen entworfen werden, die eine Spitzenkarriere spielend mit attraktivem Äußerem und Mutterschaft verbinden. Und dann nach ihrem Achtzehnstundentag wohlriechend und lächelnd in die Arme des Liebsten sinken. Reale Frauen wissen wohl am besten um die heikle Differenz zwischen solchen Filmvisionen und der Wirklichkeit.

Hans Groffebert ist Bereichsleiter bei der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung, BonnDOROTHEE WENNER, 40, lebt als freie Journalistin und Filmemacherin in Berlin. Von ihr erschien: Zorros blonde Schwester. Das Leben der indischen Kinolegende Fearless Nadia, Berlin 1999, Ullstein, 287 Seiten, 22 Mark