Die neuen Chefs
: editorial

Je seltener er wird, umso mehr beginnt man ihm nachzutrauern: der paternalistische Chef. Der Fabrikdirektor, der sich als golfspielender Anzugträger natürlich längst nicht mehr selber die Finger schmutzig macht. Einer, der irgendwie dennoch seinen Betrieb kennt und vor allem trotz seiner oft klassenbewussten Überheblichkeit als Arbeitgeber etwas Berechenbares hat. Im Guten wie im Schlechten. Die globale wirtschaftliche Umstrukturierung bringt es mit sich, dass dieser alte Cheftypus vom Aussterben bedroht ist.

Die neuen Chefs sind eine wesentlich schwierigere Spezies: Sie sind jünger, dynamischer und unterscheiden sich äußerlich oft kaum mehr von ihren Angestellten. Es wird viel von „flachen Hierarchien“ gesprochen, wobei die „Führungsqualitäten“ der Entscheidungsträger vor allem darin bestehen, die richtigen Leute zu einem Team zusammenzubringen und entsprechend ihren Fähigkeiten einzusetzen. Das gehört zum Einmaleins moderner Betriebsführung und scheint so plausibel wie zeitgemäß. Immerhin sitzt inzwischen eine Generation in den Chefsesseln, die mit Popmusik und Studentenbewegung sozialisiert wurde, und je nach Branche gehört das Du zwischen ChefIn und Angestellten zum guten Ton.

Dennoch: Nie hörte man mehr Klagen über irgendwie vermurkste Arbeitsverhältnisse. Die nur scheinbar abgeschafften Hierarchien machen besonders Konfliktsituationen unklarer, und die verschärfte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt wirkt wie eine omnipräsente, aber unsichtbare Peitsche, die nicht nur zu immer mehr Überstunden antreibt.

Das Verschwinden der alten Chefs geht einher mit einer schwer fassbaren Aufsplittung der alten Chefaufgaben – das reicht von perfektionierter Computerüberwachung in Callcentern bis hin zum Outsourcing, wo beispielsweise die Lektoren eines Verlags den freien Mitarbeitern faktisch als Subunternehmer gegenüberstehen. Und sobald es um das große Ganze geht, verzichtet kaum eine Firma mehr auf Unternehmensberater – denen obliegt es dann, mit kühler Stimme zu sagen, dass dieser und jener oder auch ein Drittel der Belegschaft entlassen werden muss, will die Firma ihr Überleben sichern.

Diese neue Wirtschaftselite, in Harvard oder St. Gallen ausgebildet, haben Andy und Larry Wachowski 1999 in ihrem Film „Matrix“ treffend dargestellt – und zwar in Gestalt jener leicht verwechselbaren Cheftypen, die man zu Dutzenden in den Business Lounges der Flughäfen trifft. Gestylt, gesund, intelligent und in maßgeschneiderter Kleidung.

Die Agenten der „Matrix“ sind in diesem Film nicht selbst das Böse, aber sie sichern an den Schaltstellen seine Macht. Keanu Reaves bekämpft diese Agenten als positiver Held – doch als er im Showdown auf den Boss einschießt, wachsen hydramäßig zwanzig, dreißig neue Anzugträger aus dem Archetyp heraus ...

Das taz.mag versucht in dieser Ausgabe, das Phänomen der neuen Chefs weniger spektakulär, dafür mit Realitätsanspruch einzukreisen. Eine Diskussionsgrundlage mit Texten von teilweise anonymisierten Autorinnen und Autoren, die als Betroffene aus unterschiedlichsten Branchen von ihren Erfahrungen berichten.

DOROTHEE WENNER