Mit Schaufeln gegen Wanderdünen

taz-Serie „Migration und Bildung“ (Teil 10 und Schluss): Brauchen wir erst Bilder von zunehmender Gewalt in den Migrantenvierteln, bevor sich etwas ändert? Drei Experten über die Ursachen und die Folgen der neuen Bildungskatastrophe

Moderation SABINE AM ORDE
und UWE RADA

taz: In dieser Woche hat die Ausländerbeauftragte Alarm geschlagen. Die Bildungsmisere bei den Migranten hat dazu geführt, dass 40 Prozent der türkischen Berliner arbeitslos sind. Wie lange wird es in Kreuzberg noch ruhig bleiben?

Sanem Kleff: Es reicht ja nicht, wenn es ruhig bleibt. Bedenklich ist doch auch die Tatsache, dass Jugendliche, die sich ausgegrenzt und perspektivlos fühlen, sich oft extreme religiöse und politische Positionen zu eigen machen.

Ulrich Pfeiffer: Der Sozialstaat stellt sie weitgehend ruhig. Ihre minimalen Einkommensansprüche werden von der Sozialhilfe erfüllt, sie leben in Familiennetzwerken und wurschteln auch ein bisschen mit Schwarzarbeit rum. Aber generell ist die Diskussion um Einwanderung bei uns eine blanke Katastrophe, weil die Folgen verdrängt werden. Wir haben im bundesweiten Durchschnitt bei den Ausländern eine doppelt so hohe Arbeitlosigkeit wie bei den Einheimischen. Das ist dramatisch.

Sind die Folgen der Einwanderung verdrängt worden? Dieser Vorwurf richtet sich auch an die Schulverwaltung.

Angelika Hüfner: In den 30 Jahren Einwanderung nach Deutschland hat sich vieles geändert. Wir haben alle geglaubt, dass sich die Probleme mit der Zeit von selbst erledigen. Niemand hat damit gerechnet, dass die dritte und vierte Generation sich nicht sukzessive in die bundesdeutsche Gesellschaft integriert.

Pfeiffer: Falsch! Wir wissen, dass Arbeitslosigkeit etwas mit der Niedrigqualifikation zu tun hat, und seit 20 Jahren haben wir Einwanderung von Niedrigqualifizierten. Dieses Strukturproblem ist lange bekannt. Natürlich kriegen Schulen mit vielen Ausländerkindern einen Bonus. Aber die Forderung muss doch lauten: Die Dropout-Quote der Ausländer muss auf das durchschnittliche Niveau der Deutschen reduziert werden.

Wie reagiert die Schule heute auf die real existierende Einwanderung?

Kleff: Ich muss Ihnen widersprechen, Frau Hüfner. Spätestens mit dem Familiennachzug in den 70er-Jahren war klar, dass die Familien bleiben werden. Damals hätten die Bildungseinrichtungen reagieren müssen.

Hüfner: Womit wir nicht gerechnet haben, ist, dass Migrantenfamilien unter sich bleiben werden. Dass junge Männer, die hier studiert haben, Frauen aus der Türkei nachholen, und sich die Familienverbände nicht öffnen. Die Bildungschancen an sich sind besser geworden. Acht Prozent der Kinder türkischer Herkunft machen mittlerweile Abitur. Aber es bildet sich eine schlimme Konstellation von bildungsfernen Elternhäusern und Kindern heraus, die den Anschluss an die deutsche Sprache, an die Integration und die Chancen der Bildungsgesellschaft nicht schaffen.

Kleff: Widerspruch! So wird immer darüber diskutiert. Es geht immer um die Struktur der Migrantenfamilien und den Zuzug aus den Herkunftsländern. Wie so oft haben wir die nackten Zahlen übersprungen. Bis nach der Wende hatten wir etwa 1.500 Lehrerstellen zur Verfügung, um Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache zu fördern. Diese Stellen sind auf die Hälfte reduziert worden. Darüber müssen wir reden. Das sind die Ursachen.

Hüfner: Das ist eine Ursache.

Kleff: Eine ganz wichtige Ursache. Eine zweite ist das, was Herr Pfeiffer bereits gesagt hat, dass diese Gesellschaft nicht anerkannt hat, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Und das führt dazu, dass Lehrer oder Erzieherinnen in ihrer Ausbildung nicht darauf vorbereitet werden, mit Kindern mit einem Migrationshintergrund zu arbeiten.

Hüfner: Da gibt es entscheidende Veränderungen in der Lehrerausbildung und in der Lehrerfortbildung.

Kleff: Sechs Stunden Deutsch als Zweitsprache im Referendariat reichen nicht. Wichtig ist aber auch das Thema Unterschicht. Wir sehen ja in verschiedenen Untersuchungen, dass sich die Probleme nicht nur auf Kinder mit Migrationshintergrund beziehen, sondern auf alle Kinder in den unteren Schichten.

Pfeiffer: Wir müssen davon ausgehen, dass die räumliche Abtrennung der Unterschicht größer wird. Der Wohnungsmarkt wird überall lockerer, wir haben in Berlin 140.000 leere Wohnungen. Das heißt, aus den schwierigen Gebieten können Aufsteiger schneller wegziehen. Der Ausländeranteil in den Schulen steigt. In diesen Gebieten bleiben die niedrig qualifizierten Deutschen übrig, die oft von der Sozialhilfe leben. Wir bekommen ein neues Phänomen, wir haben nicht nur eine Einkommensarmut, sondern auch eine Netzwerkarmut – in der Hinsicht, dass die Menschen in diesen Gebieten keine Brücken in die realen Arbeitsmärkte haben. Das heißt, das Zusammenleben wird schwieriger, die Polizei ist überfordert, die Schulen sind überfordert, weil sie dem Ansturm der sprachlosen Kinder in den ersten Klassen nicht mehr gewachsen sind.

Was muss getan werden, um diese Entwicklung zu stoppen?

Hüfner: Wir haben inzwischen eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe. Da sind auch Quartiersmanager, die Innenverwaltung, die Stadtentwicklungsverwaltung, die Arbeitsverwaltung, die Ausländerbeauftragte beteiligt. Neben diesem großen Runden Tisch gibt es viele kleine. Dabei geht es um das Zusammenleben in dieser Stadt, um Integration. Wir wissen mittlerweile, dass wir Eltern, Kita, Grundschule, Oberschulen, die Studierenden und den Lehrerberuf bewegen müssen. Diese große Linie werden wir in einem Aktionsprogramm umsetzen.

Pfeiffer: Ich kann mit Ihren rosaroten Ausführungen in keiner Weise übereinstimmen. Sie werden scheitern, Frau Hüfner.

Warum?

Pfeiffer: Fahren Sie nach England. Dort wurde genau das probiert, und man ist gescheitert. Die Schule in einer überforderten Nachbarschaft ist nicht isoliert zu reformieren. Sie müssen es schaffen, dass die Schule vor Ort ein anderes Selbstverständnis bekommt, ein örtlich angepasstes Produkt anbietet. Die ganz große Stärke der Schule ist ja, dass sie an die Ausländer rankommt, an die Schüler und an die Eltern. Die Quartiersmanager kommen da nicht ran, die Schulen schon. Da müssen alle hin und sind dran gewöhnt.

Wie soll eine solche Schule aussehen?

Pfeiffer: Unterricht für Eltern, Nachmittagsprojekte für Kinder und Jugendliche, Weiterbildungsprojekte. Die Schule muss ein funktionierendes multifunktionales Nachbarschaftszentrum werden. Dafür muss Verantwortung nach unten verlagert werden, in die Quartiere, an die Schulen. Der Polizist muss wissen, was das Jugendamt weiß und mitdenken und umgekehrt. Diese Art der Kooperation sehe ich nirgendwo in Deutschland.

In England sind zusätzliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt worden. Was ist Berlin der Kampf gegen die neue Bildungskatastrophe wert?

Hüfner: Ich stimme Herrn Pfeiffer zu, dass wir auf einem explosiven Gemisch sitzen. Und wir müssen das Problem in der Schule lösen. Wir stecken sehr viel Geld in die Zweitausbildung und in die nachfolgenden Institutionen. Dort ist der Erfolg aber gering. Deswegen ist die Bildungsverwaltung auch bereit, in die Erstausbildung sehr viel mehr zu investieren. Aber ohne Umverteilung wird es nicht gehen.

Wenn hierzulande von Bildungsinvestition die Rede ist, dann doch vorwiegend deshalb, damit man IT-Spezialisten nicht mehr im Ausland suchen will. Von einer gezielten Förderung der Bildungsschwachen ist kaum die Rede.

Kleff: Die Hochrechnungen und die Prognosen für die nächsten zehn, zwanzig Jahre sind uns ja allen bekannt. Der Bedarf an unqualifizierten Arbeitnehmern wird immer weiter abnehmen, der Bedarf an Hochqualifizierten und Höchstqualifizierten zunehmen. Warum soll man sich darum kümmern, die Unterschicht aufsteigen zu lassen? Es erscheint offensichtlich billiger, von außen qualifizierte Leute zu importieren.

Hüfner: Das ist nicht unsere Politik. Wir wollen Bildungsreserven vor Ort mobilisieren.

Pfeiffer: Wir haben einen Überschuss an niedrig qualifizierten Menschen. Jetzt gibt es einige Möglichkeiten, die Nachfrage nach Niedrigqualifizierten zu erhöhen. Sie können die relativen Preise absenken, das heißt, man nimmt ihnen die Sozialabgaben ab, um die Löhne zu senken. Dann haben sie aber die Gewerkschaften am Halse.

Kleff: Mit Recht.

Pfeiffer: Natürlich nicht mit Recht. Die zweite Möglichkeit ist mehr Wachstum. Ein Hochqualifizierter muss dann zwei Niedrigqualifizierte mitfinanzieren. Aber diese Expansion haben wir derzeit nicht. Kurzfristig und mittelfristig kann man die Arbeitslosigkeit bei den Niedrigqualifizierten nur senken, wenn man die Bruttolöhne absenkt. Langfristig, und da sind wir uns ja einig, muss ich im Kindergarten anfangen und bei den Eltern. Und dann brauchen wir natürlich auch Ganztagsschulen.

Kleff: Die Kernveränderung muss in die Richtung gehen, dass wir eine Art von Armenpädagogik als sinnvoll erachten, und alles, was dafür notwendig ist, auch finanzieren.

Hüfner: Ich sage es einmal ganz schlicht: Wir wollen eine gute Schule für alle Kinder. In der Finanzierung gibt es sicherlich Bereiche, die erfordern mehr Aufmerksamkeit als andere. Dazu gehört auch der Bereich Kinder mit Migrationshintergrund. Ich sage auch, dass wir die Chancen nutzen müssen. Man kann mittlerweile mit Bildungspolitik Landtagswahlen gewinnen, man kann sie aber auch verlieren. Rheinland-Pfalz gibt uns Mut. Vor allem auch, was die Frage der Ganztagsschulen betrifft. Das wird ganz dringlich verfolgt, und ich denke auch, dass wir es schaffen werden, vom Ausbau der zuverlässigen Halbtagsschule hin zur Ganztagsschule zu kommen.

Pfeiffer: Der Staat wird in den nächsten zwanzig, dreißig Jahren relativ immer ärmer. Das heißt, der Zwang, effektiver Geld einzusetzen, und zwar dort, wo die Bedürfnisse dringend sind, wird wachsen. Es gibt überhaupt keinen Zweifel, dass die Defizite in den Grundschulen und Hauptschulen größer sind als in den anderen Schulen und den Universitäten. Dort effektiver zu unterrichten ist auch von der volkswirtschaftlichen Effektivität her viel wichtiger als irgendjemandem an der Uni noch das 13. Semester zu finanzieren. Die Suche nach Rationalisierung im Bildungssektor heißt: Abitur mit 17 oder 18. Studienabschluss mit 22 oder 23. Studiengebühren für alle rentablen Studien. Massiv mehr Ressourcen nach unten schieben, da wo die wirklich katastrophalen Defizite entstehen. Sicher ist da Quartiersmanagement eine richtige Richtung. Aber wird reden dabei von einer Sandschaufel, mit der wir Wanderdünen bewegen wollen.

Kleff: Um noch mal zur Ausgangsfrage zurückzukommen, warum es so ruhig ist. Das hat natürlich auch mit den Selbstheilungskräften in den Migrantencommunities zu tun. Ich will das in keinster Form idealisieren, weil dazu auch die Selbstausbeutung und selbst die Ausbeutung von Minderjährigen gehört. Aber ohne diese inneren Dynamiken der Migrantencommunities hätten wir schon längst die Bilder, die wir aus den amerikanischen Filmen kennen. Manchmal denke ich, dass manche in dieser Gesellschaft erst solche Bilder brauchen, bevor sie dann umdenken und Geldströme umlenken.