Stabreime zu Kalauern

Nibelheim im Keller, die Götter unterm Dach und irgendwo dazwischen Sieglinde und Hunding: Tom Kühnel hat am Frankfurter Theater am Turm Wagners „Ring“ von der Musik befreit und in eine riesengroße Puppenstube gestellt

Die drei nackten Gören in der Badewanne – des Rheines klare Töchter – haben gegen ihren kleinen, unterbehosten Spielkameraden verloren: Erst konnten sie ihn noch foppen, doch dann hat er ihnen das Gold geklaut und einen Ring daraus gebastelt.

Aber ach, schon sind die Erwachsenen zur Stelle, versohlen ihm den Hintern und nehmen alles wieder weg. Geben’s den Mädels allerdings auch nicht zurück, sondern streiten und zanken sich selbst darum. Über Generationen hinweg. Bis zum bitteren Ende. Tom Kühnel hat am Frankfurter Theater am Turm (TAT) Wagners „Ring“ eingedampft: Vom Vorabend bis zum dritten Tag auf knapp vier Stunden, inklusive Pausen. Und – als ehemaliger Ernst-Busch-Schüler – zum dreimaligen V-Effekt ausgeholt: die Musik weggelassen, einen Großteil des Personals durch Puppen oder Schauspieler mit Masken ersetzt und das Ganze in eine riesige Puppenstube gestellt. Nibelheim im Keller, die Götter unterm Dach. Irgendwo dazwischen wohnen die Menschen: Sieglinde und Hunding in einer 60er-Jahre-Küche wie aus einem Fassbinderfilm. Statt Wagnerscher Esche: eine Fototapete mit Wald. Und Notung, das Schwert, mit einem Geschirrtuch verdeckt.

Kühnel hat – erstmals wieder als Soloregisseur nach jahrelanger Zusammenarbeit mit Robert Schuster, der sich bereits vor einigen Monaten mit „Europa“ selbstständig machte – den Ring gegen den Strich gebürstet. Oder etwa beim Wort genommen? Denn Wagners Libretto wurde zwar gekürzt, aber überraschenderweise ansonsten nicht allzu viel in den Text eingegriffen. Dass sich der Ring zur Soap eignet, wird schon beim Lesen deutlich: Wagner ist Fachmann für temporeiche Handlung, Action und rasante Einstiege. Wie im Krimi: Am Anfang ist die Tat. Alberich raubt das alles entscheidende Rheingold, rasch wird weiteres Personal eingeführt, serienartig verschiedene Episoden abgearbeitet und zugleich ein Spannungsbogen über alle Folgen gezogen. Der „Vorabend“ als Pilotfilm. Dazu Liebe, Tod und Leidenschaft. Und Neid und Gier.

Die Puppenhausbühne von Rufus Didwiszus und Jan Pappelbaum ermöglicht rasche Bildwechsel und fließende Übergänge; ganz im Sinne Wagnerscher Dramaturgie, die Kinostrukturen und Blickmuster auf mancherlei Weise vorwegnimmt. Nun ist sie im Fernsehen angelangt. Entscheidend und beherrschend für den Abend ist jedoch der Einsatz der Handpuppen, die Suse Wächter entworfen hat. Brillant gespielt, schaffen sie Distanz und zugleich faszinierende Möglichkeiten: Kinder auf der Bühne, Pferde und Raben, Riesen und Bären; ein Personal wie in einer Castellucci-Aufführung, das die anderen Darsteller oft genug an die Wand spielt.

Nicht nur die Puppen – zu Schauspielhauszeiten Markenzeichen von Kühnel und Schuster – wurden wieder entdeckt, auch der radikale Trash, der ihre früheren Klassikerinszenierungen durchzog: Hinterhältige Nibelungen, fettleibige Riesen als altes Ehepaar, ein allzu tumber Thor (Dirk Ossig), die holde Brünhilde (Jenny Schily), der weichliche Gunther (Charly Hübner), ein Yuppie-Wotan (Christian Tschirner). Sie lassen die Zeit schneller vergehen, als es sich Bayreuth je hätte träumen lassen. Aber auch schneller wieder vergessen: Dass sich Wagners bohrende Stabreime zu Kalauern hervorragend eignen, dass das überhöhte Pathos, von Musik entkleidet, schon selbst fast Parodie ist, hat man schnell begriffen. Kühnel überführt im Laufe der Zeit den Text mehr und mehr als Kasperltheater ins Kuriositätenkabinett, statt den selbst gelegten Spuren von Kindheit, Sexualität, Spießigkeit und Aufbegehren konsequent zu folgen. Trotz vieler origineller und gelungener szenischer Lösungen, trotz beeindruckenden Puppenspiels: Stimmungswechsel, Momente der Ernsthaftigkeit oder gar der Zuneigung zum Text gibt es kaum.

Paradox: Über zwei Jahre hinweg haben Kühnel und Schuster am TAT mit Alltagsuntersuchungen oder Gegenwartsproblemen oft anstrengend spröde, die Fantasie einschränkende und zuweilen über Gebühr belehrende Inszenierungen erarbeitet. Nun, mit antikem Ödipusstoff bei Schusters „Europa“ und Wagners „Ring“ setzen sie endlich wieder auf Einfallsreichtum, Unterhaltung und Originalität. Fast schon wünscht man sich, man könne auch was lernen.

FLORIAN MALZACHER