DER JUGOSLAWISCHE DIKTATOR IST VERHAFTET. ABER DAS REICHT NICHT
: Milošević muss nach Den Haag!

Man muss der serbischen Regierung und dem jugoslawischen Präsidenten zur Festnahme Slobodan Milošević’gratulieren. Zu solch einer Verhaftung gehört schon eine Portion Mut. Indem sie den früheren Diktator ausschaltet, gewinnt die neue Führung nicht nur an Autorität im Volk – sie beseitigt auch einen ständigen innenpolitischen Störfaktor, dessen Einfluss noch weit in den Apparat des Staats und der Armee hineinreicht. Nach Milošević’ Verhaftung werden sich all jene beugen müssen, die klammheimlich oder sogar offen zum alten Chef standen. Nur wenige werden ihren alten Standpunkt weiter verteidigen – das zeigen die Erfahrungen mit jenen Opportunisten in den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien, die zuerst gute Kommunisten und dann gute Nationalisten waren. Die meisten von ihnen sind ab heute selbstverständlich gute Demokraten.

Auch international sammelt die neue Führung Punkte. Der Zeitpunkt der Festnahme verrät, dass sich Präsident Koštunica und der serbische Premier Djindjić dem internationalen Druck gebeugt haben. Die USA hatten für die Festnahme eine Frist bis zum 31. März gesetzt. Wer mit Wirtschaftshilfe rechnen und in die internationalen Finanzinstitutionen zurückkehren möchte, der muss an Milošević ran – das war die klare Botschaft an die Adresse Belgrads, die noch von der alten US-Administration unter Clinton ausgegeben worden ist. Dass die Europäer wieder einmal gezögert haben und von einem Junktim zwischen beiden Fragen nichts wissen wollten, zeigt erneut die Führungsschwäche innerhalb der EU auf. Die Amerikaner haben sich mit ihrer Stratregie durchgesetzt. Milošević sitzt hinter Gittern.

Offen bleibt allerdings, ob die weiter gehende Forderung nach Auslieferung des mutmaßlichen Kriegsverbrechers an das Tribunal in Den Haag mit der gleichen Konsequenz verfolgt wird. Wer jetzt wie die Bush-Administration andeutet, die Verhaftung Milošević’ sei schon ausreichend, um die wirtschaftlichen Beziehungen auf eine neue Grundlage zu stellen, begibt sich auf politisch ungewisses Terrain. Ließe man von der Forderung ab, den Diktator vors Kriegsverbrechertribunal zu stellen, brächte man sich selbst um die Früchte einer seit Dayton 1995 verfolgten Politik. Der internationalen Gemeinschaft gelang es, wenn auch unter großen Risiken – siehe den Kosovokrieg –, eine konsistente Strategie für die Etablierung demokratischer Regierungen und für die wirtschaftliche Integration des gesamten Balkans zu entwickeln.

Sicherlich, für Koštunica und Djindjić wäre es innenpolitisch einfacher, Milošević lediglich wegen Korruption und Machtmissbrauchs abzuurteilen. Dann müssten nicht die an die gesamte Nation gestellten quälenden Fragen beantwortet werden, warum denn ein großer Teil der Bevölkerung die Politik der Zerstörung Jugoslawiens, der Kriege in Kroatien, Bosnien und Herzegowina und im Kosovo mit zum Teil großer Begeisterung mitgetragen hat. Warum so viele Menschen bis heute den Selbstrechtfertigungen Glauben schenken, alle Nationen des ehemaligen Jugoslawien wären zu gleichen Teilen schuld an dem, was geschehen ist. Viele Serben rechtfertigen die Untaten von einst damit, dass sich die Verbrechen doch „nur“ gegen Muslime und Albaner gerichtet hätten. All das zeigt, vor welchen weit reichenden Diskussionen die serbische Gesellschaft steht.

Die Aufarbeitung der Vergangenheit, davon sind viele serbische Intellektuelle überzeugt, ist eine Voraussetzung für den Friedensprozess innerhalb Serbiens, aber auch auf dem gesamten Balkan. Was sollten denn jene demokratischen Kräfte in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina denken, die seit Jahren mit Den Haag kooperieren und alle Voraussetzungen für die Auslieferung der Kriegsverbrecher geschaffen haben? Würden die Serben eine Extrawurst braten dürfen, stärkte dies die keineswegs schwachen nationalistischen Extremisten in den anderen Nachfolgestaaten. Außerdem: Ist es Milošević’ Opfern wirklich zuzumuten, nach Belgrad zu fahren, wo die kleinen Fische, die die Drecksarbeit gemacht haben, sich noch immer frei bewegen können?

Den Haag ist der Platz für den Prozess gegen Milošević. Dabei reicht es nicht, ihn wegen der Verbrechen im Kosovo anzuklagen – auch die Verbrechen in Bosnien und Kroatien müssen endlich gesühnt werden. In dieser Frage darf es keinen Kuhhandel geben. ERICH RATHFELDER