„FÖRDERSCHULEN“ FÖRDERN NICHT – SIE GRENZEN ARME KINDER WEITER AUS
: Behindert durch die Sonderschule

In der reichen Bundesrepublik wächst die Armut von Kindern. Laut Statistik ist inzwischen jedes siebte Kind arm. Doch es gibt auch Stadtteile, in denen mehr als 30 Prozent der Minderjährigen davon betroffen sind. Parallel – und das ist kein Zufall – nimmt die Schülerzahl in den Sonderschulen zu. Kinder aus Migrantenfamilien sind dort überproportional vertreten. In Nordrhein-Westfalen beträgt ihr Anteil in den allgemeinbildenden Schulen 13,4 Prozent, aber in den Sonderschulen sind es 20,6 Prozent. In Baden-Württemberg liegt er sogar bei 36,4 Prozent. Das heißt: Für türkische Migrantenkinder ist der Besuch der Sonderschule inzwischen „normal“.

Wie eine Studie der AWO zeigt, führt Armut häufig auch zu sozialer und kultureller Not. Ohne ausreichende Zuwendung drohen die Kinder vor dem Fernseher zu verwahrlosen. Fehl- und Unterernährung verzögern ihre körperliche Entwicklung. Sprach-, Sozial- und Arbeitsverhalten werden beeinträchtigt – also gerade jene Bereiche, die für den Schulerfolg so maßgeblich sind. Dementsprechend werden arme Kinder bei der Einschulung sehr viel häufiger wegen fehlender Schulreife zurückgestellt, haben sehr viel häufiger Lernprobleme, sind öfter verhaltensauffällig.

Doch diese Lebensrealität armer Kinder wird in unserem Schulsystem kaum berücksichtigt; Lernbehinderung gilt immer noch als Intelligenzbehinderung. Im öffentlichen Bewusstsein herrscht die beruhigende Illusion, bei einer Überweisung auf eine Sonderschule handle es sich um eine begabungsgerechte Entscheidung – und nicht um eine Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen mit extremer sozialer Benachteiligung.

Die Politik weiß es längst besser. Dass ausländische Schüler in den Sonderschulen überrepräsentiert sind, ist nicht neu. Dies müsste alarmieren: denn es kann ja nicht ernsthaft angenommen werden, dass ausländische Schüler per se weniger intelligent seien als deutsche. Jüngst hat die Bertelsmann Stiftung unserem Bildungssystem schonungslos bescheinigt, dass es sich durch extreme soziale Chancenungleichheit auszeichnet. Wie auch unzählige andere Gutachten keinen Zweifel daran lassen, dass die soziale Lebenslage die Wahl der Schulform und den Schul- bzw. Berufsabschluss bestimmen. Wenn trotzdem immer noch versucht wird, den häufigen Sonderschulbesuch von Migrantenkindern auf die Sprachschwierigkeiten zu reduzieren und den Elternhäusern die Schuld daran zu geben, dann ist dies billiger Populismus und plumpes Ablenkungsmanöver.

Es drängt sich der Eindruck auf, dass zumindest ein Teil der Politik die sozial benachteiligten Kinder und Jugendlichen abgeschrieben hat. Aktuelle bildungspolitische Debatten konzentrieren sich lieber auf die Leistungsstarken und Hochbegabten: Sie sollen von den langsamer Lernenden möglichst frühzeitig separiert werden. Damit wird die Ausgrenzung im Schulsystem noch verschärft. Bezeichnenderweise ist in all den hitzigen bildungspolitischen Debatten bis heute nicht die Frage nach der Qualität der Sonderschulen gestellt und die Forderung nach ihrer systematischen Evaluation erhoben worden. Bei internationalen Leistungsvergleichen werden sie verschämt herausgerechnet und jeder Diskussion entzogen.

Denn eine Evaluation käme zu desaströsen Ergebnissen: Die Sonderschule fördert nicht – sie behindert zusätzlich. An der Universität Hamburg wurde 1999 untersucht, ob die Förderschule Leistungsdefizite kompensieren könne. Der erschütternde Befund: Bei gleicher intellektueller Ausgangslage erbringen Schüler der Hauptschule bessere Schulleistungen als vergleichbare Schüler der Förderschule! Gleichzeitig bestätigte sich wieder, dass die Förderschule eine „Schule der Armen“ ist.

Daher muss die Legitimation dieser Schulform radikal bezweifelt werden. Doch stattdessen besteht die Gefahr, dass sich die derzeitige Diskussion in die falsche Richtung bewegt: dass es eher um den Fortbestand der Sonderschulen auf einem besseren Niveau geht als um die Grundsatzfrage, wie auch arme Kinder von Geburt an integriert werden können. Einer der wichtigsten Bausteine: Benachteiligte Kinder in benachteiligten Stadtteilen müssen von Anfang an gezielt und verstärkt gefördert werden – im Rahmen des Regelangebots, nicht auf „Sonderschulen“. BRIGITTE SCHUMANN

Lehrerin und Sprecherin der AG Schule und Bildung der Grünen in Nordrhein-Westfalen