vorlauf
: Leerer, voller Kopf

Der Tag, der in der Handtasche verschwand (22.15 Uhr, WDR)

Duisburg. Ein langer Flur. Kurzatmig kommt Eva Mauerhoff auf die Kamera zu. „Ich bin ganz außer mir“, sagt sie, „was liegt da vor?“ Der alten Dame ist alles unheimlich. Sie flüstert verschwörerisch. „Sie sind im Pflegeheim“, sagt die Stimme hinter der Kamera. „Also, dass die mir nichts gesagt haben ...“ Eva Mauerhoff verliert ihr Gedächtnis. Altersbedingt. Alzheimer.

Marion Kainz (Buch, Regie, Kamera) hat die verwirrte und manchmal unfreiwillig witzige Frau begleitet, da, wo sie sich nicht zurechtfindet, wo sie staunt und sich wundert. Im Heim. Der 45-Minuten-Dokumentarfilm hat mittlerweile ein halbes Dutzend Preise eingeheimst. Und es gibt Szenen, die hätte sich niemand ausdenken können. Von poetischer Tiefe ist der Moment, der dem Film seinen Titel gab. Mauerhoff kramt in ihrer Handtasche. Was da sei, fragt die Kamerafrau. „Nichts.“ Was sie finden will? „Ich suche wahrscheinlich den gestrigen Tag.“ Wie ein gelernter Fernsehprofi spricht sie mit der Kamera, als wäre sie ihre Verbündete: „Alles ist so stehen geblieben, wissen sie ...“

Sie weiß nicht wie, wann und warum sie ins Heim gekommen ist. Wir erfahren es auch nicht. Warum auch: Es zählt nur das Hier und Jetzt, wie bei Mauerhoff selbst. Deren Fragen sind klar, ihre Reflexionen logisch. Nur die Vergangenheit fehlt, und damit alle Erklärung. Vielleicht war sie mal eine kluge Frau. Sie tippt an ihren Kopf: „Ich hab’s hier. So viel. Aber es kommt nicht raus.“

Es gibt rührende Dialoge mit anderen Alten. In der Küche, Kartoffeln schälend, wird Mauerhoff herrisch: „Kartoffeln schälen!“, raunzt sie die apathische Nachbarin an. Manchmal versteht auch Eva Mauerhoff ihr Problem. Sie will vom Pfleger „Auskunft über vieles“. Der wundert sich gespielt routiniert. Ihm sagt sie: „Ach, ich kann Sie nicht brauchen“, und zu uns in die Kamera: „Der geht mir auf’n Wecker.“ Die genervte Schwester fragt: „Was fehlt Ihnen?“ Antwort: „Alles. Liebe.“ Die Kamera mit der Autorin dahinter versteht besser: „Ist mein Gedächtnis weg? Wie kann man es aufhalten?“ Und dann der Abend mit Gesang: „Die Gedanken sind frei ...“, choralen die Alten dünnstimmig, „sie fliegen vorbei wie mächtige Schatten.“ Gedanken. Nur, welche Gedanken? BERND MÜLLENDER