juttas neue welt: Steffens Future-Life
Gestern klingelte ein völlig aufgelöster Steffen an meiner Tür. Unter den Augen war er dick beringelt. Sein Mundwerk dagegen funktionierte bestens: „Ich muss dir dringend was erzählen. Du weißt ja, dass ich meine Onlinesucht mittlerweile ganz gut im Griff habe. Nur manchmal überfällt sie mich wieder, dann muss ich unbedingt ein bisschen surfen. Wie gestern Abend. Nur ein Viertelstündchen, sagte ich mir. Ich landete irgendwann auf www.futurelife.ch, da wurde mein Bildschirm plötzlich ganz heiß und fing an zu flimmern. Auf einmal ertönte eine Stimme: „Transfer completed.“ Der Monitor blubberte daraufhin wie eine Lavalampe.
Ich merkte plötzlich, dass sich meine Wohnung sehr verändert hatte. Ein bläuliches Licht floss aus den Steckdosen, und meine Stereoanlage gab seltsame Pieptöne von sich. Überall hingen Webcams, und auf einem kleinen Monitor über dem Sofa konnte ich in deine Küche schauen – du hattest einen Schal um den Hals gewickelt und warst gerade dabei, einen Tee zu kochen. Dann hast du mir zugewinkt. Ich konnte leider nicht zurückwinken, weil es an meiner Tür klingelte. Im Flur stolperte ich über ein gelbes Kabel und stieß mir den Kopf an meiner Diskokugel. Ich öffnete die Tür. Da standen zwei kleine grüne Männchen mit Alu-Rollern, die im Chor skandierten: „Sie haben zwei neue Nachrichten. Möchten Sie diese jetzt lesen?“ Ich nickte verwirrt, die beiden übergaben mir zwei Briefumschläge und rollten davon.
Eine Nachricht war von meiner Mutter, die mich bat, nach ihrem Rindfleisch-Scanner zu sehen, der seit ein paar Tagen ununterbrochen muht. Die andere Nachricht war von dir. Du hättest dich im Mondschatten erkältet und müsstest dir gerade ein Antivirenprogramm runterladen. Deshalb könntest du auch am viereinhalbten April 2010 nicht mit zu Zaphod Beeblebrox kommen, der uns zu einem pangalaktischen Donnergurgler eingeladen hatte. Ich aber wusste gar nichts davon und dachte, dass die Mails vielleicht nicht für mich waren. Doch auf dem Briefumschlag stand tatsächlich „Steffen“, bloß die Straße war falsch: Milch- statt Moltkestraße. Ich ging ins Bad, um mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht zu jubeln. Doch als ich den Wasserhahn aufdrehte, begann der Download einer MP3-Datei in mein Waschbecken. In der Küche wollte ich mir wenigstens einen Kaffee kochen, aber der Raum hatte sich in ein wahres Armaturen-Inferno verwandelt – alles blinkte und flackerte. Im Backofen schmorte bereits ein Moorhuhn, und Captain Picard servierte mir einen Kaffee. Unter dem Tisch entdeckte ich Stanislaw Lem und William Gibson, die Murmeln spielten und ständig sagten: „Hab ich’s dir nicht gesagt?“ Ich war wie gelähmt. Einen solchen Betrieb bei mir zu Hause bin ich doch gar nicht gewöhnt. Und plötzlich stockte mir der Atem: Meine Klamotten rutschen, wie an einer Schnur gezogen, an meinen Füßen vorbei in Richtung Waschmaschine. Dort sprangen sie in die Trommel, und eine Stimme sagte „Alles läuft nach Wunsch.“ Ich kapierte, dass selbst HAL anwesend war und vorhatte, meine gesamte Garderobe bei 90 Grad zu waschen. Im letzten Moment konnte ich meinen neuen Kaschmirpulli retten. Ich zog ihn an und flüchtete aus diesem Irrenhaus auf die Straße. Und jetzt bin ich hier.“
Ich sah Steffen in die Augen und strich über seinen Unterarm, der in einem verknubbelten Kaschmirpulli steckte. „Leg dich erst mal auf die Couch und ruh dich aus“, sagte ich. Mehr konnte ich in diesem Moment wirklich nicht für ihn tun.
Traumarbeit: STEFFEN K., aufgezeichnet von
JUTTA HEESS (pechlucky@gmx.de)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen