Russlands neuester Putsch

Eine aktuelle Stunde der Duma fand nicht statt, der Protest der Öffentlichkeit ist gering. Putins Medienrevolution regt in Russland bislang nur wenige auf

aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH

Ein roter Balken „Protest“ ziert das Logo des Privatsenders NTW, seitdem am Dienstag der Kreml das Flaggschiff des russischen Journalismus kaperte. Die Mitarbeiter verbrachten die Nacht in der Redaktion. Gerüchte kursierten, die neuen Herren der Gasprom-Media würden noch nächtens Ordnungskräfte schicken und die Namensschilder der abgesetzten Führung auswechseln. Das wollte die Mannschaft, die sich noch wie ein eingeschworenes Team gibt, nicht zulassen. Sie verlangt, Generaldirektor und Chefredakteur Jewgeni Kiseljow solle auf seinem Posten bleiben.

Die siegreichen Erfüllungsgehilfen des Kremls lassen sich unterdessen Zeit. Nach einem Jahr unerbittlichen Kampfes um die unabhängige TV-Anstalt kommt es nun auf wenige Stunden auch nicht mehr an. Am Abend hatte Kiseljow noch einmal Vertreter der Intelligenz und der demokratischen Öffentlichkeit ins Studio geladen. Die Meinung der wenigen fiel eindeutig aus: Der Vorstoß des Kremls gilt nicht den undurchsichtigen Finanztransaktionen des Mehrheitseigners der Media-Most-Gruppe, Wladimir Gussinsky, wie Präsident Wladimir Putin behauptet. Der wirkliche Gegner ist die offene Gesellschaft. „Erst schlagen sie die Presse, danach uns alle“, meinte Schriftsteller Wiktor Jerofejew. Klar ist, der Kremlchef verfolgt die Aktion nicht nur, er wirkt im Planungsstab mit. Es ist die Angst des Machtlosen, die ihn treibt.

Vor dem Sendegebäude versammelten sich noch in der Nacht aufgeschreckte Bürger. Tagsüber waren es einige hundert, meist jüngere Leute, die mit russischer Trikolore und Trauerflor ihren Protest kundtaten. Erst die unerlaubte Demonstration veranlasste indes die Polizei einzugreifen. Sie forderte die abgesetzten NTW-Chefs auf, die Demonstranten nach Hause zu schicken.

Die Entrüstung der Gesellschaft hält sich in Grenzen. Niemand, meinte der liberale Politiker Grigori Jawlinski, begreife, dass der Vorfall der zweite Putsch in Russlands jüngster Geschichte sei. 1991 stürzten kommunistische Putschisten Präsident Michael Gorbatschow. Diesmal sei es ein „Putsch unter Mitwirkung ausländischen Kapitals“. Damit spielte der Jabloko-Vorsitzende auf die dubiose Rolle des amerikanischen Finanzmanagers russischer Herkunft, Boris Jordan, an. Ihn hatte die umstrittene Versammlung der NTW-Aktionäre am Dienstag zum Generaldirektor gekürt.

Der schwache Protest der Öffentlichkeit hat nicht allein etwas mit der politischen Apathie der Bürger zu tun. Eine Mehrheit der Russen empfindet vielmehr eine gewisse Schadenfreude, dass der Kreml einem mächtigen Oligarchen, der vermutlich auf zweifelhafte Weise zu Reichtum gelangt ist, endlich an den Kragen geht. Den Anschlag auf die Freiheit der Presse und die Figur des Oligarchen auseinander zu halten, fällt ihnen nicht leicht.

Die neue Führungsriege unter dem Gasprom-Media-Chef Alfred Koch und Jordan hat den Mitarbeitern unterdessen mitgeteilt, an der Redaktionspolitik werde sich nur wenig ändern. Boris Jordan drohte im Falle einer Einflussnahme von außen mit Rücktritt. Beruhigungsformeln, die übermorgen wohl schon vergessen sind. Denn die Okkupation eines – zumal verschuldeten – Senders macht keinen Sinn, wenn sich nicht der Ton ändern soll. Zynisch meinte Alfred Koch: „Ich hoffe, NTWs Journalisten bauen weder Barrikaden noch verbrennen sich selbst.“ Bisher hat die neue Führung den neuen Arbeitsplatz noch nicht aufgesucht.

Der Vorsitzende der Duma, Gennadi Selesnjow, wunderte sich, dass eine „zweifelhafte Gesellschaft“ wie Koch und Jordan auf einmal eine unabhängige Fernsehanstalt übernimmt. Beide waren in der Vergangenheit in mehrere Finanzaffären verstrickt. Jordan steuerte gar zwei russische Firmen in den Bankrott. Er soll sich nun um die finanzielle Gesundung des Unternehmens kümmern. Auch in der Duma gehörte der Kommunist Selesnjow zu einer Minderheit, die sich besorgt über die Entwicklung äußerte. Jablokos Versuch, NTW zum Thema einer aktuellen Stunde zu machen, scheiterte an den Stimmen der Chauvinisten, Kommunisten und der Kremlpartei „Einheit“.

Gestern strahlte NTW nur Nachrichten aus. Zwischendurch sah man das leere Studio. Einen Rückzieher wird der Kreml wohl nicht mehr machen. Er muss sich aber beeilen, das Kapitel abzuschließen. Jede halbe Stunde wartet NTW mit Neuigkeiten auf. So soll die Capital Research Group, deren 4,5 Prozent Anteile bei der Wahl den Ausschlag gegeben haben soll, durch ihre Anwälte mitgeteilt haben: Weder hätten an der Abstimmung Firmenvertreter teilgenommen noch seien Vollmachten erteilt worden.

Laut Nachrichtenagentur Argumenty i facty habe ein hochgestellter Mitarbeiter Gasproms erklärt, die Auslandskonten aller Mitarbeiter, die sich gegen die neuen Herren sperren, durch die Staatsanwaltschaft überprüfen zu lassen. Dass die russische Justiz in besonderen Fällen gut funktioniert, ist hinreichend bekannt.