Behinderte sollen selbstbestimmt leben

Das neue Sozialgesetzbuch IX soll eine Kehrtwende in der Behindertenpolitik einleiten: Selbständigkeit statt Fürsorge

BERLIN taz ■ Ein Bündel neuer Regeln im Sozialgesetzbuch soll Behinderten mehr Selbständigkeit und gleichberechtigte Teilhabe in Beruf und Gesellschaft eröffnen. Der Gesetzentwurf, der heute im Bundestag verabschiedet werden soll, spiegele einen Paradigmenwechsel wider, sagte der Bundesbeauftragte für Behindertenbelange, Karl Hermann Haak, gestern in Berlin. Die acht Millionen Behinderten in Deutschland sollten nicht länger Objekt der Fürsorge sein, so Haak, sondern selbstbestimmt über ihr Leben entscheiden.

Das so genannte Sozialgesetzbuch IX soll die Kooperation der Leistungsträger in der Rehabilitation verbessern. Gemeinsame Servicestellen aller Träger auf Kreisebene dienen den Behinderten künftig als wohnortnahe Anlaufstellen, die schnelle Hilfe bieten. Bisher, so Haak, hätten die Behinderten den Leistungen hinterherlaufen müssen. „Nun gilt das Prinzip: Die Dienstleistung folgt den Menschen.“

Wenn Träger nach neun Wochen nicht über eine beantragte Leistung entscheiden, sollen die Behinderten sich diese künftig selbst kaufen können – und die Träger müssen die Kosten erstatten. Ziel ist es, die Verfahren zu beschleunigen. Derzeit werden rund 200.000 Klagen vor Gericht ausgefochten, bei denen sich Betroffene mit Trägern über Zuständigkeiten streiten. In manchen Fällen dauere es bis zu einem Jahr, bis über den Hilfebedarf entschieden sei, so Haak.

Um schwer behinderte Menschen am Arbeitsleben zu beteiligen, sollen diese künftig einen Rechtsanspruch auf Assistenz erhalten. So könne ein Rollstuhlfahrer für den Weg zur Arbeit einen Fahrdienst beanspruchen.

Durch die Maßnahmen sollen keine Mehrkosten entstehen. „Es geht nicht um neue Leistungen, sondern um eine Umorientierung der bisherigen Maßnahmen“, so Behindertenbeauftragter Haak. Bislang stehen jährlich rund 55 Millionen Mark zur Verfügung. Das Gesetz, das bereits am 1. Juli in Kraft treten soll, ist zunächst bis Ende 2004 befristet. Danach soll der Gesetzgeber die Maßnahmen evaluieren und das Gesetz gegebenenfalls neu formulieren.

Haack rechnet mit einer fraktionsübergreifenden Zustimmung im Bundestag für den Gesetzentwurf. Diese einheitliche Position habe man erreicht, weil alle betroffenen Gruppen in die Gespräche einbezogen waren.

Tatsächlich hatten der Deutsche Städte- und Gemeindebund sowie der Deutsche Städtetag den Entwurf jedoch scharf kritisiert. Sie befürchten Mehrkosten. NM