Unter der Schminkschicht

Teil III der Serie „Wir Kinder vom Potsdamer Platz“: Gleicht der radikale Umgang mit den alten Bauten dem, wie künftig mit der heute geschaffenen Architektur umgegangen werden wird?

Wird es noch die Chance geben, die Orte mit eigener Seele zu entdecken?

von SERGEI TCHOBAN

Als in St. Petersburg Geborener erinnere ich mich noch gut an die über fünfzehn Jahre alte Geschichte des Hotels „Angleterre“. In den Zwanzigerjahren nahm sich in diesem Hotel unter ungeklärten Umständen einer der berühmtesten russischen Dichter das Leben, womit das Gebäude zu einer Art konspirativen Gedenkstätte Petersburgs wurde. Zum allgemeinen Erstaunen setzte sich eine Volksinitiative der frühen Perestroika gegen den von der Stadtverwaltung geplanten Abriss des Hotels durch. Schließlich stellte sich die Stadtverwaltung an die Spitze dieser Volksbewegung und sicherte – gemeinsam mit professionellen Architekten – zu, dass mit der Verwandlung des alten Hotels in ein schickes „Joint-Venture-Product“ die originalgetreue wie behutsame Rekonstruktion des Gebäudes gewährleistet werde. Der Sieg über den profanen Umgang mit Geschichte schien errungen.

Die Enttäuschung holte mich jedoch ein, als ich vor zwei Jahren meine Heimatstadt besuchte, in jenem neu-alten Hause nächtigte und seiner entwurzelten Substanz gewahr wurde. „Elegante“, historisch anmutende Details „ergänzten“ erhaltene Bauteile; modernst isolierte, neue Fenster hielten sich an deren alte Aufteilungen und die Suiten besaßen schusssicheres Glas. Es fehlte dem Haus wirklich an nichts, nur eines war ihm verloren gegangen: seine Seele. Zeitlosigkeit im wahrsten Sinne des Wortes ersetzt Gegenwärtigkeit und Angemessenheit. Es wurde mir klar, welche Gratwanderung der Versuch darstellt, Geschichte und deren Strukturen erneuernd nachzuempfinden. Selbst im unverändert belassenen Zimmer des Dichters roch es nach frischer Farbe.

Dieser Geruch holt mich in den Häusern, Blöcken und Quartieren des alten, neuen Berlins wieder und wieder ein – mitleidlos führt er mir vor Augen, mit welcher Geschwindigkeit und Perfektion die städtischen Substanzen geglättet werden. Ich frage mich, ob diese rasende Entwicklung mir die Chance lässt, die von Bauherrn noch nicht totsanierten Innenhöfe, Plätze, Gassen – die Orte mit eigener Seele – zu entdecken.

Aber es stellt sich auch die Frage, wie denn das Altern der von uns „Kindern des Potsdamer Platzes“ geschaffenen Substanz aussehen wird – ob sie eine Seele haben, all unsere neuen, auf Konsum ausgerichteten Geschäfts-Büro-Wohn-Multiplexe. Werden wir nicht bald auch erleben, wie nach einer Phase der Entwicklungseuphorie die mit einer Schminkschicht verschönten Ecken nach der totalen Sanierung schnellstens zu Naturschutzgebieten erklärt werden? Oder besteht dennoch die Chance, dass auch diese Resultate augenblicklicher Entwicklung mit Patina bedeckt und in einen organischen Kontext eingefügt werden? Spricht nicht alle Logik dafür, dass zu Gunsten der „Lebensqualität“ und deren Finanzierbarkeit die bewusste Veränderung, Verdichtung einer Stadt angestrebt werden muss; dass unvermietbare Substanz ohne unangebrachte Sentimentalität entkernt und zugebaut wird?

Ist es nicht schließlich der langersehnte Durchbruch in Richtung westlichen Lebensstils, der lange östliche Jahre geträumte Traum, der in den Neunzigern Realität zu werden versprach?

Und entspricht solch eine Entwicklung in ihren Wurzeln nicht dem Wunsch eines jeden Architekten nach reellen Möglichkeiten des Bauens? Ein Wunsch, der mir im investitionsarmen Russland lange verwehrt geblieben ist. Doch eine Frage bleibt: Wie vereinbart man nun eine Verwirklichung der augenblicklichen Ideale der Generation der „Kinder des Potsdamer Platzes“ mit dem Respekt vor den gestern verwirklichten Idealen?

In der Ausübung meines Berufes versuche ich, die aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Bei der Sanierung und Umgestaltung von Büro- und Gewerbebauten aus den Siebzigern, vor allem der Plattenbauten, hebe ich deren gestalterische Geradlinigkeit und Strenge, oftmals verklärt durch verfallene Materialien, hervor. Anstatt eine neue, „potjomkinsche Sprache“ zu erfinden, lasse ich die ursprüngliche Substanz wieder ihre eigene Sprache sprechen. Für ein Haus am Alexanderplatz habe ich keinen adäquateren Weg finden können, als die von Döblin bildhaft beschriebene Atmosphäre des früheren Alexanderplatzes in Form einer Wandbuchstaben-Installation mit den augenblicklichen Entwicklungen des Ortes direkt konfrontieren zu lassen.

Bei dem Abriss und der Realisierung der Neubauten ist die Auseinandersetzung mit meinen Schlichtungsgedanken besonders schwierig; da stellt sich schon manches Mal die Frage, ob der radikale Umgang mit den Vorgängerbauten dem gleichen wird, wie auch mit der von uns geschaffenen baulichen Substanz umgegangen werden wird. Vielleicht ist das eine unvermeidbare Folge unserer auf Vermarktungswahn basierenden gesellschaftlichen Entwicklung, in der die Häuser ihre Kleider oft schneller wechseln als wir in unserem leiblichen Leben. Da wünscht man nur, dass sich die besseren der heute gebauten Ideen gegen künftige Abriss- und Verdichtungsphilosophien behaupten können. Auch St. Petersburg entstand schließlich in einer historisch sehr kurzen Zeit und verwandelte sich in eine der städtischen Weltschönheiten, übrigens nicht zuletzt wegen strenger Einhaltung von Höhenbegrenzung und der städtebaulichen Kanten, welche Mittelmaß wie Höhepunkte verschieden alter Architekturen über Jahrhunderte zu einem Gesamtbild vereinte. Das Winterpalais am Schlossplatz von St. Petersburg wurde mehrmals abgerissen und neu aufgebaut. Man sagt, jedes Mal schöner als zuvor.

Der Zweck heiligt nicht die Mittel, ohne angemessene Entschlossenheit kann jedoch auch nicht wirklich Neues entstehen. Es bleibt nur zu hoffen, dass die „Enkel vom Potsdamer Platz“ differenzieren und achten können, was ihre Eltern und ihre Großeltern geschaffen haben.

Sergei Tchoban, 1962 in St. Petersburg geboren, 1991 nach Deutschland umgesiedelt, ist Partner im Architekturbüro NPS mit Sitz in Berlin, Hamburg und Dresden. Die Döblin-Buchstaben-Installation ist am Alex 6 zu sehen.